Queer sein in Marokko ist schwierig bis gefährlich, denn gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen sind in dem nordafrikanischen Königreich mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe belegt.
Doch nicht nur durch die Gesetzeslage sind Mitglieder der LGBTQ-Community in Marokko in der Auslebung ihrer Gender-Identifikation und ihrer sexuellen Orientierung beschränkt. Sie sind gesellschaftlich mit einem starren Stigma belegt, dass sich wohl als Relikt aus der Kolonialzeit beschreiben ließe.
Hohe Wahrscheinlichkeit nach Outing Opfer psychischer und physischer Gewalt zu werden
So schweigen sich nicht nur die politischen Parteien in Marokko zu dem Thema aus – manche vermutlich in Angst, Ihre Wählerschaft abzuschrecken –, sondern es kommt sogar zu eigenständigen Lynchbewegungen gegen LGBTQ-Menschen. Die körperlichen Angriffe auf diese Menschen werden häufig gefilmt und in den sozialen Medien verbreitet. Mit dem Effekt, dass die Attackierten über den psychischen und physischen Schaden hinaus im Internet ‚zwangs-geoutet‘ werden. In den vergangenen Jahren war bei diesen Vorgängen immer wieder zu beobachten, dass die Opfer bei Prozessen dennoch höhere Strafen erhielten als die Angreifer. Vorausgesetzt es kam überhaupt zu Anzeigen und Gerichtsverhandlungen.
Die Angriffe und das Zwangs-Outing im Internet können neben öffentlicher Erniedrigung auch zu einem langfristigen Verlust von Zukunftsperspektiven führen. Mit einer eingetragenen Vorstrafe entfallen einige Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Außerdem wächst die Bedrohung vor erneuten Übergriffen, wenn die Anonymität der Betroffen nicht mehr gewahrt ist.
Die Pandemie verstärkt die Aufmerksamkeit gegenüber bestimmter Gruppen
Seit Covid-19 zur weltweiten Pandemie wurde, war unter anderem in Deutschland eine mediale Auseinandersetzung mit der besonderen Gefährdung bestimmter Bevölkerungsgruppen durch Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen zu beobachten. Beispielsweise wurde das Risiko häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder in Zeitung und Fernsehen wiederholt thematisiert.
In Marokko wäre es zusätzlich die LGBTQ-Community, die in den Zeiten der Ausgangssperre besondere mediale Aufmerksamkeit verdient hätte. Insbesondere junge Menschen, die diese Zeit mit ihren Familien auf engstem Raum verbrachten, waren gefährdet. Diese sind ohnehin häufiger von Überwachung durch Familienmitglieder und häuslicher Gewalt betroffen.
Gravierende Folgen eines einzigen Aufrufs in den sozialen Medien
Doch die Aufmerksamkeit, die im April auf die Community gelenkt wurde, war nicht von Aufklärung motiviert. Im Gegenteil. Die marokkanische Influencerin Sofia Taloni, die sich selbst als nichtbinär identifiziert, rief am 13. April ihre Follower dazu auf, sich bei Dating-Apps für Homosexuelle anzumelden und die dort Registrierten zu denunzieren.
Es kam zu einer Welle öffentlicher Bloßstellungen im Internet, mehrere junge Menschen wurden infolge dieser von ihren Familien des Hauses verwiesen. In einer Zeit, in der die Ausgangssperre in Marokko jeglichen Aufenthalt im öffentlichen Raum verbot, für den keine Sondergenehmigung vorlag, und deren Einhaltung strikt von Polizei und Militär sichergestellt wurden. Im ersten Monat des Lockdowns haben marokkanische Behörden nach eigenen Angaben über 50.000 Festnahmen aufgrund von Verstößen gegen die strikte Ausgangssperre getätigt. Als queerer, junger Mensch des Hauses verwiesen zu werden, bedeutete daher in diesen Zeiten nicht nur mit der Verletzung durch mangelnde Akzeptanz der eigenen Identität leiden zu müssen. Es stellt eine reale Gefahr dar, von Militär oder Polizei verhaftet zu werden, auch weil die Auffangstrukturen für LGBTQ-Menschen in Marokko große Mängel aufweisen.
Die Fälle, in denen Bestrafungen durch die Familie bekannt wurde, sind ein Abbild des feindlichen Klimas gegenüber der LGBTQ-Community, das in der marokkanischen Gesellschaft zu weiten Teilen vorherrscht. Sie lassen zugleich nur vermuten welche Folgen das öffentliche Outing und Denunzieren der Betroffenen bedeutete. In wie vielen Fällen es zu verschärften Kontrollen oder sogar häuslicher Gewalt gegen die Denunzierten kam, lässt sich nur vermuten. Doch Menschenrechtler_innen und marokkanische Organisationen zum Schutze der LGBTQ-Community warnen vor steigenden Fallzahlen.
Zwangs-Outing Einzelner als Anprangern der ganzen Community
Die Motivation zu ihrem Aufruf beschrieb die Influencerin Sofia Taloni selbst als eine Art Racheakt vor allem gegen schwule Marokkaner, die sich ihr gegenüber feindlich im Internet geäußert hätten.
Sie habe zudem zeigen wollen wie viel Heuchlerei in der Community herrscht, wie wenig die Mitglieder sich gegenseitig unterstützen und wie viele von ihnen sich hinter einem ‚normalen‘, gesellschaftskonformen Leben verstecken. Ob ein Aufruf zu öffentlicher Demütigung der zielführendste Weg ist um Zusammenhalt innerhalb einer zerstreuten und teils verfolgten Community aufzubauen, ist fraglich. Dass der Aufruf von einer, nach eigenen Aussagen, nichtbinären Influencerin ausging, ist für viele unverständlich bis verletzend.
Was für die marokkanische LGBTQ-Community bleibt ist die Hoffnung, dass die Vorkommnisse sich nicht wiederholen mögen und die gesellschaftliche Akzeptanz ihrer Identitäten und sexuellen Orientierungen wächst. Dafür bedarf es Zeit und viel Arbeit, die hoffentlich keine dauerhafte Verzögerung durch die Pandemie erfahren muss. Da die Ausgangssperre in Marokko erst seit wenigen Tagen aufgehoben ist, ist es vermutlich noch eine Frage der Zeit, bis das Ausmaß der Denunzierungs-Welle ans Licht kommen wird.
Autorin: Lina Loth
*Dieser Beitrag ist im Rahmen des Kurses Krisenmanagement in der globalen Stars-Cov2 / Covid19 Krise entstanden.