Man kann es kaum glauben, aber es hat mich voll erwischt. Ich bin noch ganz bewegt, ganz verzaubert, ganz gerührt.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, heute die Stadt zu erkunden und endlich mal einen Eindruck von Tunis zu bekommen. Endlich mal zu sehen, wo ich mich denn eigentlich befinde. Endlich vergleichen zu können. Das Neue und das Alte.
Aber dann überfiel mich so eine ungewohnte Scheu davor, hinauszugehen und alleine in die unbekannte Stadt zu fahren. Plötzlich wurde mir erst bewusst, dass ich mich in den letzten Jahren so ungefähr nie alleine in etwas Neues gewagt hatte. Immer ging ich mit anderen oder ging dorthin, wo andere schon auf mich warteten. Diese Unsicherheit, diese Barriere vor dem nächsten Schritt, kannte ich so gar nicht von mir. So dachte ich daran, was ich anderen in dieser Situation raten würde und kam schnell zum Entschluss, packte kurzerhand meine Sachen und machte mich auf den Weg.
Anstatt gleich die Riesenstadt Tunis zu erklimmen, nahm ich mir erst einmal die kleine Nachbarstadt vor. Sidi Bou Said. Dorthin kam ich für 50 ct mit dem Taxi und ließ mich vom Taxifahrer kurz vor einem großen Anstieg rauslassen. Erstmals ohne auf eine Karte zu gucken machte ich mich auf den Weg und lief einfach der Nase nach. Ich ließ mich treiben, hatte keine Ahnung, wo ich war und erwartete nichts.
Durch touristische Verkaufsstände hindurch hielt ich den Blick gesenkt, wollte nicht schon wieder angesprochen werden. Wollte nicht wieder wie eine Touristin angesprochen werden. Anstrengend ist das, immer falsch verstanden zu werden. Irgendwann lichtete sich allerdings der Trubel und ich bog in eine kleine Gasse ein, die von Pflastersteinen gesäumt war. Die Häuser waren allesamt weiß, die Türen in einem schönen Himmelblau gestrichen und häufig mit Eisenelementen verziert. Am Ende der Gasse konnte ich eine blaue Wand ausmachen. War es eine Wand? Ich wagte es nicht, zu hoffen, doch wurde schnell belohnt.
Plötzlich öffnete sich mein Blickfeld, wurde weit und hell und blau. Ich war an der höchsten Spitze des Berges angelangt, ohne es auch nur zu merken. Mein Blick flog über kilometerweites Meer, über verworrene Sträucher und wolkenloses Blau. Traumhaft.
Als ich mich nach rechts drehte entdeckte ich einen Friedhof, der ganz in weiß die Bergspitze säumte. Und auch dahinter konnte mein Blick endlos schweifen. Berge, ganz in transparentem Blau ragten hinter einer riesigen Bucht auf. Und rechts daneben: Tunis. Ich war augenblicklich beeindruckt von dieser einzigartigen Weitsicht, diesem unerwarteten Überblick, diesem unverhofften Eindruck.
Auch als ich wieder einige Gassen herabstieg, nur um gleich wieder in eine andere Richtung nach oben geleitet werden, bot sich mir ein atemberaubender Blick. Es ist September, vor drei Tagen war Winteranfang und die Schwimmsaison ist nun angeblich vorbei. Aber was sich mir hier bot war schöner als jeder Sommer in Deutschland hätte sein können.
Dort oben fand ich einen weiteren Friedhof, der besser gepflegt und neuer wirkte. Aus Marokko war ich gewöhnt, dass man im Umkreis von Friedhöfen Achtung bewahren solle. Dass man auf keinen Fall Fotos machen und sie als Nicht-Muslim nicht betreten dürfe. Nicht selten wurden wir ermahnt, wenn wir uns zu nah dran gewagt hatten. Hier jedoch lagen die Grabsteine offen sichtbar direkt an der unbefahrenen Straße. Nur drei Soldaten in schwarz mit großen Maschinengewehren hielten hier Wache. „La mumkin an adhab?“ sagte ich zu ihnen auf Hocharabisch. Es ist nicht möglich, dass ich hineingehe, oder? Diese antworteten jedoch, ich sei sogar willkommen, mir den Friedhof anzuschauen. Marhaba! Ganz vorsichtig wagte ich mich also doch auf den Friedhof und genoss die bezaubernde Aussicht. Zudem wurden mir die Beerdigungsriten erklärt, von denen ich bislang auch noch nichts gewusst hatte.
Einer der Soldaten sprach sogar gut Deutsch und der Onkel des anderen lebt in Deutschland. Ein dritter fragte mich nach Marokko aus, nachdem er meinen arabischen Akzent zunächst nach Algerien gesteckt hatte. Ich bin Rabati, sagte ich. Ahhh, Maghrebiyya? Marokkanerin? Wie gefällt dir Marokko? Die Marokkaner sind nicht gut, Tunesien ist viel besser! Aber hör! Tunesien war vor der Revolution viel besser! Das war eine schlechte Idee aus Europa. Zu Tunesien passt das gar nicht! Jetzt ist vieles nicht mehr gut. Schade, dass du es vor der Revolution nicht gesehen hast!
Er fragte mich aber auch, ob ich hier Angst vor Terroristen habe. Viele hätten dies, sagte er. Viele würden sich nicht mehr nach Tunesien trauen. Aber er versicherte mir, dass es in Tunesien keine Terroristen gebe. Ich solle keine Angst haben.
Darauf wusste ich nicht mehr viel zu antworten und verabschiedete mich bald mit einem Aischek von den freundlichen Soldaten.
Auf dem Weg nach Hause fand ich noch eine der vielen Gelaterias, die es hier gibt. Ein Gutes bringt die Nähe zu Italien also auf jeden Fall. Lecker sind hier Eis und Kaffee, die man an jeder Straßenecke findet. Italiener habe ich hier allerdings noch nicht getroffen. Es scheinen viel eher Tunesier, die in Italien gearbeitet haben und das Beste importiert haben. So entsteht ein skurriler Mix. Aus französischem Kolonialerbe mit Baguette und Boulangerie. Aus mediterranem Flair mit blau-weißen Häusern, das Andalusien ähnelt. Und eben Gelato Originale Italiano.
Nun werde ich gerade noch Zeugin eines Eishändlers, der Kinder mit Eismagie an der Nase herumführt. Er reicht ihnen ihre Waffel mit einer Kugeln in Größe einer Melone oder gibt Ihnen ein Hörnchen, das doppelt ist, sodass ihnen am Ende nur die Waffel in der Hand bleibt. Die Kinder kreischen vor Freude und lachen herzhaft über die Zaubertricks. Gute Laune gibt es hier also genug in diesen ersten Wintertagen bei 32 Grad. Ich für meinen Teil genieße jetzt erst mal meinen Espresso und kann endlich mein Wochenende genießen.
Grüße aus Tunis!