Ich muss zugeben: 2016 ist in vielerlei Hinsicht einfach ein merkwürdiges und verrücktes Jahr gewesen. Großbritannien stimmt dafür, die EU zu verlassen. Kolumbien stimmt dagegen, einen Friedensvertrag anzunehmen, der fünf Jahrzehnte Bürgerkrieg beenden würde. Das Wahlergebnis in den USA hat die Weltordnung völlig überraschender Weise komplett auf den Kopf gestellt. In Syrien herrscht immer noch Bürgerkrieg (get it together, internationale Staatengemeinschaft!). In Deutschland kehrt die AfD in gleich mehrere Landtage ein. Augsburg führt Bampeln (Boden-Ampeln) ein, damit man vor dem Überqueren einer Straße nicht vom Smartphone aufschauen muss – kein Witz. Zum Glück ist schon November, deswegen kann so viel nicht mehr passieren… oder doch?
Ende Oktober stürzt plötzlich Südkorea in politisches Chaos, sodass bis Anfang November die sprichwörtliche Kacke am Dampfen ist. Sehr kurz zusammengefasst: Die koreanische Regierung wird hinter den Kulissen von einem pseudo-christlichen Kult kontrolliert und korrumpiert. Moment, wie bitte?
Mal tief durchatmen und einen Schritt zurückgehen. Fest steht auf jeden Fall, dass Präsidentin Park Geun-hye (박근혜) in tiefen Schwierigkeiten steckt. Ende Oktober wurde enthüllt, dass Choi Soon-sil (최순실), eine langjährige Freundin Parks, über viele Jahre hinweg ihre Finger im politischen Spiel hat. Sie soll an wichtigen Reden mitgearbeitet und auf als geheim eingestufte Dokumente Zugriff gehabt haben – und somit Park auf Schritt und Tritt ins Ohr geflüstert haben.
Das Ganze fing relativ harmlos an. So wurde zunächst Chois Tochter vorgeworfen, unrechtmäßig in die renommierte Ewha Universität für Frauen zugelassen worden zu sein – scheinbar sei der Aufnahmeprozess beeinflusst worden. Studentenproteste an der Uni gegen diese unfaire Behandlung einer „Tochter der privilegierten Oberschicht“ brachten den Ball ins Rollen und führten dazu, dass man Präsidentin Park mit Choi und ihrer Tochter in Verbindung brachte. So soll Park ihre Position ausgenutzt haben, um ihrer Freundin diesen Gefallen zu tun.
Erst in den kommenden Tagen aber wurde daraus ein großer Skandal als die Intensität der Freundschaft zwischen Park und Choi nach und nach aufgedeckt wurde. In Chois Büro fand man ein Tablet voller Regierungsdokumente und alter Reden Parks sowie passender Weise ein Selfie von Choi. Dies bestätigte, dass Choi in vielen Regierungsangelegenheiten involviert war. Nicht nur dass, sondern traf sie scheinbar auch Entscheidungen über die persönliche Garderobe der Präsidentin und stattete sie mit Handtaschen eines Designers ihres Vertrauens aus. Park hat sich unmittelbar danach in einer öffentlich übertragenen Ansprache dafür entschuldigt und bestätigt, dass sie Choi in verschiedenen Situationen um Rat gefragt hat. „Bald nach ihrem Amtsantritt“ soll dies aufgehört haben; sie habe dies nur getan, „um besonders sorgfältig zu sein“. Dokumente auf dem Tablet deuten allerdings darauf hin, dass Choi bis vor wenigen Monaten noch in Regierungsangelegenheiten involviert war. Mittlerweile ist Choi verhaftet worden und befindet sich jetzt in Untersuchungshaft.
Als interdisziplinärer IRMler war ich natürlich besonders begeistert, als ich gelesen habe, dass es sich bei diesem Skandal neben Kultur (die geschummelte Uni-Aufnahme) und Politik (dubiose Hintergrundmachenschaften) auch um Wirtschaft dreht: Geld, und zwar viel davon. Über ihre enge persönliche Beziehung zu Park soll Choi verschiedene große koreanische Unternehmen (u.a. Samsung) unter Druck gesetzt haben, Beträge in Höhe von 62 Millionen Euro an zwei ihrer Sportstiftungen zu spenden. Scheinbar hat sich Park damit für die Zeit nach ihrer Präsidentschaft absichern wollen – was sie bestreitet. Laut koreanischem Gesetz können Präsidenten nur eine Amtszeit dienen und sich deshalb nicht zur Wiederwahl aufstellen lassen. Dank Parks flächendeckender Unbeliebtheit schon vor diesem Skandal wäre wohl auch eine anderweitige Fortführung ihrer politischen Karriere unrealistisch gewesen – für Kritiker ein plausibler Grund, auf diese Weise für finanzielle Sicherheit zu sorgen.
Die wohl merkwürdigste Komponente des Skandals ist der Hintergrund der Beziehung zwischen Park und Choi. Choi Tae-min (최태민), ihr Vater, gründete in den 1970er Jahren einen pseudo-christlichen Kult und war bis zu seinem Tod dessen Anführer, nannte sich Pfarrer und behauptete von sich, Menschen heilen zu können. Choi Tae-min und Park trafen sich 1975 zum ersten Mal, kurz nachdem ihre Mutter von einem nordkoreanischen Spion umgebracht wurde. Choi behauptete, Parks Mutter sei ihm im Traum begegnet und habe ihm befohlen, auf ihre Tochter aufzupassen. Von diesem Moment an war Choi wie eine Art Mentor der zu diesem Zeitpunkt 23-jährigen. Über das Vertrauen Parks konnte Choi sich und seiner Familie scheinbar ein großes Vermögen beschaffen. Jahrelang hatte Choi großen Einfluss über Park. Ein von Wikileaks veröffentlichte Korrespondenz zwischen dem damaligen US-Botschafter und dem State Department sprach von „lauten Gerüchten, dass Choi Tae-min während Parks prägenden jungen Jahren komplette Kontrolle über ihren Körper und ihre Seele hatte und seine Kinder deswegen enormen Wohlstand ansammeln konnten“.
Selbst als ihr Vater Park Chung-hee (박정희), der damals autoritärer Präsident Koreas war, misstrauisch wurde, soll seine Tocher Choi vehement verteidigt haben. Park wurde 1979 vom Direktor der Korean Central Intelligence Agency ermordet. Als einen Grund für das Attentat nannte dieser die schädliche Beziehung zwischen Park Geun-hye und dem älteren Choi und die Tatsache, dass Park (Vater) nichts dagegen unternommen hat. Als Choi 1994 starb blieb die enge Beziehung zwischen seiner Tochter und Park erhalten und besteht offensichtlich bis heute.
Wir fassen das Wichtigste zusammen: Präsidentin Park Geun-hye wird vorgeworfen, sich bei ihren politischen Entscheidungen von einer guten Freundin beraten haben zu lassen, die in keiner Weise mit der koreanischen Regierung in Verbindung steht und dessen Vater einen pseudo-christlichen Kult gegründet hat.
Das Ganze wird allerdings tatsächlich noch spannender, denn die heiße Spur führt bis nach Deutschland, und zwar nach Schmitten im Taunus. Dort wurde vor ungefähr einem Jahr von Koreanern das Haus Hattstein gekauft und als „Widec Taunus Hotel“ eröffnet – als „Trainingslager für Dressurreiter in Hinblick auf die Olympischen Sommerspiele 2020“. Vor ein paar Wochen wurde es quasi von einem Tag auf den anderen aufgegeben; auch Google zeigt es als „permanent geschlossen“ an. Jetzt hat sich das Hotel als Briefkastenfirma von Choi Soon-sil herausgestellt, in das ein Teil des von koreanischen Firmen gespendetes Geld geflossen sein soll.
Mittlerweile hat der Skandal weitreichende politische Konsequenzen hervorgebracht. Präsidentin Park hat ihr Kabinett neu durchgemischt und den Premier- und Finanzminister entlassen. Sie hat der politischen Opposition erlaubt, einen neuen Premierminister zu ernennen und hat angekündigt, freiwillig einige exekutive Kompetenzen an ein parteiübergreifendes Kabinett abzugeben. Mehrere ihrer Berater sind zurückgetreten; zwei von ihnen wurden verhaftet. In Seoul sind am Wochenende hunderttausende Menschen auf die Straßen gegangen und verlangen Parks Rücktritt – manche Quellen sprechen von über einer Millionen Demonstranten. Interessanter Weise beruft sich das koreanische Internet hierbei auf den Skandal um Ex-Bundespräsident Wulff und deuten auf seinen vergleichsweise schnellen Rücktritt und die Schuldanerkennung seinerseits hin.
Wie bei allen großen Skandalen ist es auch in diesem Fall wichtig, Information differenziert zu betrachten und stets Fakten und Meinung zu trennen. Vor allem in koreanischen Internetforen kursieren jetzt wilde Theorien herum, wie tiefgreifend Chois Einfluss auf die koreanische Regierung war bzw. ist. Es wird sogar gemunkelt, dass nicht die echte Choi verhaftet wurde, sondern ein Double. Oder dass die Untersuchung in den Skandal nur inszeniert ist um die Öffentlichkeit zu beruhigen. Das macht das Internet zum Beispiel an folgendem Vergleich fest:
Links ein Foto eines vollgepackten Kartons einer Untersuchung in Deutschland. Scheinbar ist die Kiste schwer, da der Boden durchhängt und der Träger vermutlich wegen des Gewichts das Gesicht verzieht. Im Vergleich dazu das rechte Foto aus der aktuellen Untersuchung in Korea: Ganz locker scheint der Herr zwei Kisten Materialien aus Chois Büro tragen können. Laut des Internets müssen die Kisten deswegen leer sein – ein eindeutiges Zeichen eines Vertuschen vonseiten der Regierung. Wie viel Wahrheit darin steckt kann wohl niemand sagen; dennoch ist es mit Sicherheit gut, mit einer gesunden Portion Skepsis an solche Gerüchte heranzugehen.
Eines zeigen diese Gerüchte aber: das Vertrauen der koreanischen Bevölkerung in ihre Regierung und dessen Rechtsdurchsetzung ist erschüttert. Und das, obwohl es bisher noch kein demokratisch gewählter Präsident geschafft hat, Skandal- und Korruptionsfrei sein Amt zu verlassen und sich Koreaner deswegen gewissermaßen daran „gewöhnt“ haben. Insofern ist es in diesem Fall aber nicht so sehr die Tatsache des Skandals die so schockiert, sondern vielmehr der vollkommen irrationale Grund dafür. Es wäre nachvollziehbar, wenn ein Präsident korrupt ist, um sich und/oder seiner Familie finanzielle Vorteile zu verschaffen oder seine Machtposition zu stärken. Aber um dies für eine gute Freundin mit dubiosen Hintergrund zu tun und davon selber nicht profitieren? Für viele Koreaner unverständlich. Genau dies zeigt vielen auch das Ausmaß der Abhängigkeit der Präsidentin von Choi. Genauso erinnern sich viele Koreaner aber auch, etwas peinlich berührt, an Geschichten von antiken Königen und Königinnen Koreas, die sich von Schamanen und Wahrsagern in die Irre geführt haben lassen.
Neben den wilden Theorien findet man im Internet aber auch viele Memes, die über Park herziehen und versuchen, etwas Humor in den Skandal zu bringen. So hat sich zum Beispiel bei einer Rauferei während der Festnahme Chois, bei der sie einen Schuh verlor, herausgestellt, dass er von Prada ist. Prompt fand man im Internet Nebeneinanderstellungen von Chois Schuh und dem Filmplakat von Der Teufel trägt Prada. Oder Menschen in Masken von Choi, die ein Plakat mit der Aufschrift „Siri“ um den Hals gehängt haben – in Anspielung an die persönliche Assistentin von Apple.
In einer zweiten emotionalen öffentlichen Ansprache hat Präsidentin Park angekündigt, sie würde sich eventuellen Untersuchungen gegen sie ohne zu Zögern fügen. Sie versuchte außerdem, ihr Verhalten zu erklären. So sei sie sich der familiären Korruption vorheriger Präsidenten bewusst gewesen und habe deswegen alle Verbindungen zu ihren Geschwistern gekappt um nicht in diese Versuchung zu kommen (Park hat selbst keine Kinder und hat nie geheiratet – obwohl im Internet sogar gemunkelt wird, dass sie mit Choi Tae-min ein Kind bekommen hat, das mit ihr im Blauen Haus – Koreas exekutive Residenz – wohnt). Dafür habe sie bald darauf hin angefangen, bei persönlichen Unsicherheiten ihre Freundin Choi anzusprechen. Choi wird auch in fremdsprachigen Medien mittlerweile als „moderner Rasputin“ bezeichnet, angelehnt an den dubiosen Berater des letzten russischen Zaren.
So viel erst mal zu diesem Thema. Ich möchte zum Schluss noch gerne anmerken, dass ich relativ lange gebraucht habe, um diesen Artikel zu schreiben. Im koreanischsprachigen Internet (danke Google Übersetzer) gibt es Analysen und Ansichten noch und nöcher zu diesem Thema. Sich dort erst mal durchzuwälzen war gar nicht so einfach, vor allem, weil man doch recht vorsichtig sein muss, um Fakt und Meinung auseinanderzuhalten. Ich habe mein Bestes versucht und rate trotzdem dazu auf, nicht alles in diesem Eintrag blind zu glauben, sondern lieber nochmal selber nachzuforschen. Die New York Times hat in den Anfängen des Skandals eine gute Zusammenfassung erstellt; ansonsten kann ich diese Übersicht bei Ask a Korean empfehlen – wobei ich die Objektivität des Blogeintrags schwer beurteilen kann. Ansonsten danke ich für’s Lesen bis zum Ende! Ein langer Artikel über ein Thema, von dem ich in deutschen Medien noch nicht viel mitbekommen habe. Und beim nächsten Eintrag wird’s auch wieder um Taiwan gehen. Bis dann!
Das Titelfoto zeigt Präsidentin Park bei ihrer ersten öffentlichen Entschuldigung nach Enthüllung des Skandals.