Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf venezolanische Geflüchtete in Kolumbien

10.02.2020, 7 Uhr, Kolumbien. Ich sitze im „Transcaribe“, dem Bus zu meiner Universität in Cartagena. Ein junger Mann mit einer Tüte Schokoladenriegel steigt ein. „Alles wie immer“, denke ich.

“Ich bin Juan aus Venezuela und lebe hier in Cartagena. Eine Schokolade für 4 Pesos! Damit kann ich Essen für meine Töchter kaufen. Helfen Sie mir, bitte!“

21.07.2020, Deutschland

Abbildung 1 Informeller, venezolanischer Verkäufer im Transcaribe-Bus, Cartagena

21.07.2020, Deutschland

Vier Monate nachdem ich aus Kolumbien zurückgeflogen bin, fühlt sich nichts mehr an „wie immer“. Mir wird zunehmend bewusst, was die Pandemie für die in den letzten Jahren nach Kolumbien geflüchteten Venezolaner*innen bedeutet. Mit Sorge habe ich in den vergangenen Monaten ihre Geschichten verfolgt. Fotos von Tausenden, die sich auf den Weg zurück in ihr Heimatland machen mussten, haben mich zutiefst schockiert.  

Was bedeutet eine Pandemie für Menschen, die nicht einfach ins Home-Office wechseln können und die, während der Nationalismus weltweit erstarkt,  kein wirkliches Zuhause haben?

Situation der Venezolaner*innen in Kolumbien vor COVID-19

In den vergangenen Jahren hat Kolumbien mehr als 1,8 Millionen Einwanderer*innen aus dem Nachbarland Venezuela aufgenommen. Mehr als die Hälfte von ihnen (circa 60%) lebt ohne offiziellen Status, nur wenige befinden sich in regulären Arbeitsverhältnissen.

Mit dieser prekären Situation einher gehen Schwierigkeiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie dem Erhalt von Beschäftigung und Bildung. Trotz extremer Kraftanstrengungen seitens Kolumbien hat sich die Situation kaum verbessert. Auch wenn längst nicht alle profitierten, zeigte sich das Land lange solidarisch.

Bereits im vergangenen Jahr zeichnete sich jedoch zunehmend ein Konkurrenzkampf im informellen Arbeitsmarkt ab. Denn nicht nur ein Großteil der Venezolaner*innen ist in diesem Bereich tätig, sondern auch die Hälfte der Einwohner*innen Kolumbiens.

Abbildung 2 Venezolanische Geflüchtete warten an einem Terminal in Bogotá

Auswirkungen der Pandemie auf „die Vergessenen“

6.03.2020

Mit dem ersten festgestellten COVID-19 Fall in Kolumbien und der daraufhin verkündeten landesweiten Ausgangssperre veränderte sich die Lage für die Geflüchteten schlagartig. Vor allem der folgende  Kollaps des informellen Sektors verstärkte ihre prekäre Situation. Eine Umfrage zeigt, dass zwei Drittel der in Kolumbien lebenden Venezolaner*innen durch die Krise ihren Job verloren und 84% ohne jegliche Einkünfte überleben müssen. Bereits im Mai machten Migrant*innen in Protesten deutlich, dass sie den anhaltenden Hunger mehr fürchten als das Virus.

Die Willkommenskultur der kolumbianischen Bevölkerung stieß immer mehr an ihre Grenzen und Medien berichteten vermehrt über Anfeindungen sowie verstärkt auftretende Xenophobie. Aufnahmen von Supermarkt-Plünderungen durch Venezolaner*innen führten zu einem Generalverdacht. Interessant ist, dass der kolumbianische, rechtskonservative Präsident Duque sich daraufhin auf die Seite der Einwanderer*innen stellte und zu Solidarität aufrief. Fraglich bleibt, ob er dies aus Mitgefühl oder im Hinblick auf internationale, finanzielle Unterstützung tat.

Seitdem hat sich die Lage kontinuierlich verschlechtert: mit 211.000 offiziellen Fällen zählt Kolumbien zu den am stärksten betroffenen lateinamerikanischen Ländern. (Stand: 22.07.2020).

Zehntausende Geflüchtete trafen daraufhin eine Entscheidung, die zuvor unvorstellbar schien: Sie machten sich auf den Weg zurück in ihr zutiefst konfliktgebeuteltes Heimatland – ein Exodus in die entgegengesetzte Richtung der vergangenen Jahre.

Die Duque Administration stufte die gegenläufige Migrationsbewegung und das schlecht auf die Pandemie vorbereitete Nachbarland als Infektionsrisiko ein und schloss frühzeitig die Grenzen. Daraufhin versuchten viele über illegale, von Drogenhändlern und Guerillas kontrollierte, Grenzübergänge zu gelangen.

Zurück in die „Heimat“?

Sie erwartet ein gescheitertes, von Konflikten tief gespaltenes und unsicheres Land. Venezuela leidet unter der schlimmsten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise in der Geschichte Lateinamerikas. Der ehemalige Gesundheitsminister analysiert: „Das Gesundheitssystem ist komplett zusammengebrochen, die Bevölkerung verarmt. Es fehlt an Nahrung, Wasser, Elektrizität, Sicherheit und Transport.“ Das Land ist auf den Sars-CoV-2 Ausbruch nicht vorbereitet: Es stehen nur 102 Beatmungsgeräte, 206 Intensivbetten und ein offizielles Testlabor für 24 Millionen Einwohner*innen bereit.

Die Stigmatisierung der Rückkehrer*innen als Gesundheitsrisiko findet auch in ihrem Heimatland statt. Wahlweise werden sie als Vaterlandsverräter*innen, ein Gesundheitsrisiko oder kolumbianische Spione bezeichnet. Der venezolanische Diktator Maduro beschuldigt Kolumbiens Regierung die Migrant*innen als Waffe zur Ausbreitung der Epidemie in Venezuela einzusetzen. Fotos von Corona-Isolationszentren hinter der Grenze dokumentieren außerdem inhumane Zustände. Doch die internationale Gemeinschaft ignoriert die Situation weitgehend.

Eine Lösung in Sicht?

Abbildung 4 Der kolumbianische Präsident Ivan Duque (links) und der venezolanische Machthaber Nicolás Maduro

Die diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Regierungen wurden schon vor der Pandemie abgebrochen und verhindern ein dringend notwendiges,  abgestimmtes Krisenmanagement. Präsident Duque bezeichnet Venezuela als „tickende Zeitbombe“ und Maduro lässt nur 300 Landsleute an drei Tagen pro Woche einreisen.

 

Internationale Kooperation & Krisenmanagement

Abbildung 5 Internationale Geberkonferenz am 26.06.2020

Währenddessen bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an: Geflüchtetenlager an der Grenze sind überfüllt und internationale Hilfsgelder reichen bei weitem nicht aus. Die dramatische Intensivierung der Migrationskrise in Kolumbien könnte die Infektionszahlen in beiden Ländern weiter ansteigen lassen. Die kolumbianische Regierung ist daher auf internationale Unterstützung angewiesen. Die Geberkonferenz von UN, EU und Spanien zur Unterstützung der venezolanischen Geflüchteten und die Zusage von 2,5 Milliarden Euro Hilfsgeldern sind dabei ein erster Schritt. Ob das Hilfspaket, welches auf die ganze Region verteilt wird, ausreicht, ist fraglich. Zumal Kolumbien nicht nur mit der Geflüchtetenkrise, sondern auch mit Rückschlägen im eigenen Friedensprozess zu kämpfen hat.

Eine erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie wird maßgeblich durch die Kontrolle der Migrationsbewegung entschieden werden. Notwendig sind auch Kommunikationskanäle mit dem venezolanischen Regime, denn trotz politischer Gegensätze bedarf es einem grenzübergreifenden Krisenmanagement. Die Konsequenzen fehlender Kooperation werden höchstwahrscheinlich gravierender sein, als der politische Preis einer Zusammenarbeit mit einer Diktatur. Leidtragende wären „die Vergessenen“, aber auch die Bevölkerung beider Länder.

Fazit

Die anfänglich beschriebene Situation im Bus war keine Ausnahme: Fast täglich habe ich mich in Cartagena mit Venezolaner*innen unterhalten. Jetzt frage ich mich, was aus all diesen Menschen geworden ist und ob auch sie sich auf den gefährlichen Rückweg in ihr Heimatland gemacht haben.

Denn während auf der ganzen Welt die Grenzen geschlossen und die Blicke ins Landesinnere gerichtet werden, geraten Geflüchtete zunehmend in Vergessenheit. Immer sporadischer konfrontieren uns Zeitungsartikel mit ihrer ausweglosen Situation. Die Welt scheint keine Notiz von den Fotos zu nehmen, die das Leid „der Vergessenen“ dokumentieren. Sich damit aktiv auseinanderzusetzen ist wichtiger denn je.

Erneut wird klar: Das Virus macht uns nicht alle gleich. Weltweit leiden Arme, Geflüchtete, an den Rand der Gesellschaft gedrängte Menschen mehr am Virus als Wohlhabende. Verantwortung zu übernehmen, bedeutet zunächst, uns dieses Privilegs bewusst zu werden.

 

Autorin: Paula Schäfer

*Dieser Beitrag ist im Rahmen des Kurses Krisenmanagement in der globalen Sars-Cov2 / Covid19 Krise entstanden.

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