It is sink or swim – Mit dem Rücken zur Wand
Mitte März tritt Boris Johnson, Premierminister des Vereinigten Königreiches, vor die Presse, um ein Regierungsstatement hinsichtlich der COVID-19-Pandemie zu geben. Die schlimmste Gesundheitskrise dieser Generation wird es werden, formuliert er drastisch, und Familien sollen sich vorbereiten ihre Liebsten zu verlieren. Die Eindämmungsmaßnahmen der Regierung sprechen jedoch eine mildere Sprache. Während Anfang März Italien seine Schulen und Universitäten schließt, um die Ausbreitung zu verlangsamen, spricht die UK Regierung lediglich Empfehlungen aus, wie Pubs und größere Menschenansammlungen zu meiden. Am 17. März, zwei Tage vor meiner Rückreise nach Deutschland und zwei Tage bevor Deutschland den Flugverkehr zu 95% einstellt, erlebe ich in den Städten Cowley und Oxford noch reges Treiben. Um horrende Überpackgebühren zu vermeiden, bin ich auf dem Weg ein Paketklebeband zu kaufen, damit ich einige meiner Sachen mit einem Paketdienst vorschicken kann. Während meiner Suche zu Fuß, begegne ich zahlreichen Jugendlichen, die allem Anschein nach mit Snacks und Spirituosen auf dem Weg in ein sehr kleines Haus sind, aus dem laute Musik dröhnt – sie wollen sich das Feiern (noch) nicht verbieten lassen – eine paradoxe Szene.
Begründet wird dieses zaghafte Verhalten mit dem Ziel eine ‚Herdenimmunität‘ aufbauen zu wollen, bei der sich ca. 60% der Bevölkerung infizieren sollen. Ein waghalsiges Vorhaben, wenn man bedenkt, dass der Premierminister etwa zur gleichen Zeit die Bevölkerung darauf vorbereitet Geliebte zu verlieren. Knapp 250 britische Wissenschaftler kritisieren im Rahmen eines öffentlichen Briefes diese zögerliche Strategie und werfen der Regierung vor, dass restriktivere Maßnahmen Tausende von Menschenleben retten könnten. Ein Sprecher des britischen Gesundheitsministeriums wird am Tag nach dieser Veröffentlichung bekanntgeben: „Herdenimmunität ist nicht Teil des Aktionsplans, sondern das natürliche Beiprodukt einer Epidemie“.
Out of the frying pan into the fire – Vom Regen in die Traufe
Anfang April infiziert sich dann auch der Premierminister mit dem Virus COVID-19. Auch seine Erkrankung scheint, ähnlich wie die Eindämmungsmaßnahmen der britischen Regierung, anfangs sehr mild zu verlaufen. Doch ähnlich der Situation in Großbritannien scheint auch die Infektion von Boris Johnson am Ende doch gravierender zu sein als anfangs gedacht. Weniger als eine Woche später befindet sich dieser auf der Intensivstation. Am Ostersonntag, dem 12. April gibt Boris Johnson jedoch Entwarnung. Er befindet sich auf dem Weg der Besserung – aber wie steht es um das Vereinigte Königreich?
Mitte Mai führt Großbritannien einen traurigen Rang an – mit mehr als 224.000 Infizierten und mehr als 36.000 Todesfällen gibt es dort so viele pandemiebedingte Todesfälle wie in keinem anderen europäischen Land. Obwohl die anfangs zögerliche Strategie im Laufe der letzten Monate durch restriktive Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen ersetzt wurden, leidet das Vereinigte Königreich schwer unter den Folgen der Pandemie. Die Schwere des Ausmaßes wurde erst Ende Mai bekannt. Die offiziellen Zahlen werden drastisch nach oben korrigiert werden – siehe Schaubild links – , als bekannt wird, dass bislang Todesopfer nicht erfasst wurden, die zu Hause oder in Pflegeheimen an den Folgen der Infektion mit dem Virus Sars-CoV-2 starben.
Grafik: Coronafälle in Großbritannien zum 04.06.2020 – Quelle: Statista
Zwei Drittel der britischen Bevölkerung sind sich sicher, dass die Entwicklung auf die späten Eindämmungsmaßnahmen der Regierung zurückzuführen ist. Während in den meisten anderen europäischen Ländern die Grenzen wieder geöffnet wurden und die allgemeine Reisewarnung am 15. Juni größtenteils aufgehoben wurde, verpflichtet Großbritannien nahezu alle Einreisenden ab 8. Juni zu einer 14 tägigen Isolation. Zwar werden auch in Großbritannien die Maßnahmen gelockert, jedoch weit vorsichtiger als im Rest von Europa. Vermutlich sinnvoll, denn während die Todeszahl in Deutschland bislang bei fast 9.000 Opfern liegt, verstarben in Großbritannien bereits fast 40.000 an den Folgen des Virus. Obwohl ich traurig bin, dass ich mein Auslandssemester früher abbrechen musste, bin ich froh in Deutschland zu sein.
Between the devil and the deep blue sea – Zwischen Baum und Borke
Nicht nur gesundheitlich, sondern auch wirtschaftlich leidet die Insel stark unter den Folgen der Pandemie. Statt einem „Stay at home“ setzt der Premierminister nun auf den Slogan „Stay alert“ – wachsam soll man also bleiben, während die Wirtschaft langsam wieder angekurbelt wird. Viele Briten sind jedoch verunsichert, denn die Lockerungen erlauben zwar wieder zur Arbeit zu gehen, jedoch sollen keine öffentlichen Transportmittel benutzt werden – dies ist allein im Großraum London unmöglich umsetzbar. Obwohl langsam Cafés und Geschäfte wieder öffnen dürfen, prognostiziert die britische Zentralbank einen Wirtschaftseinbruch um 14%. Dabei spielt laut eigenen Angaben für britische Fluggesellschaften unter anderem die 14-tägige Isolationspflicht eine Rolle, gegen die sie letztendlich Klage einreichten. Gesamtwirtschaftlich deckte ein Rettungspaket der Regierung Schätzungen zufolge bis zu 80% des Nettolohns von bis zu 7,5 Millionen Jobs ab. Dieses Hilfspaket könnte sich am Ende jedoch in einen „Drop in the bucket“ – einem Tropfen auf dem heißen Stein – verwandeln, denn die Lockerungsmaßnahmen sind so schwammig formuliert, dass viele Briten nicht wissen, ob sie nun wieder arbeiten gehen dürfen oder nicht.
It never rains but it pours – Ein Unglück kommt selten allein
Obwohl vom Nebenschauplatz ‚Brexit‘ aufgrund der sich ausbreitenden Pandemie während der letzten Monate kaum gesprochen wurde, ist auch hier die Unsicherheit groß. Die letzte Deadline vor dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union rückt näher. Wird bis Ende Juni 2020 keine Verlängerung der Übergangsphase beantragt, muss spätestens bis 31.10. ein Abkommen vorliegen, damit es noch ratifiziert werden kann. Ansonsten könnte Großbritannien nicht nur mit den Folgen der Pandemie kämpfen müssen, sondern auch mit dem unwiderruflichen Ausstieg ohne Abkommen zum 31.12.2020.
Die globale Pandemie könnte diese potenzielle Ausgangslage sogar noch weiter provoziert haben. Die Verhandlungen waren zwar bereits zuvor festgefahren, jedoch sind nun die Verhandlungspartner zusätzlich mit den Folgen der Pandemie beschäftigt. Tritt ein No-Deal-Szenario ein befürchtet die Bank of England die tiefste Rezession seit mehr als 300 Jahren – berechtigt, wenn man bedenkt, dass Großbritannien knapp die Hälfte ihrer Ware in die EU exportiert, während umgekehrt nur 10% exportiert werden.
Hesitating and dithering or all’s well that ends well – Zögern und Zaudern oder Ende gut, alles gut?
Die zögerliche Strategie der britischen Regierung scheint sich weder im Hinblick auf die globale Covid19 Pandemie noch im Hinblick auf den bevorstehenden Brexit bewährt zu haben. Das Gesundheitssystem war bereits vor der globalen Pandemie unter starker Kritik und konnte der hohen Infektionswelle kaum standhalten. Für das Land bleibt deshalb zu hoffen, dass sich die Lage nicht weiter verschlechtert und ein möglicher Brexit ohne Abkommen das Land nicht noch in eine tiefere Krise stürzt.
Autorin: Andrea Maurer
*Dieser Beitrag ist im Rahmen des Kurses Krisenmanagement in der globalen Sars-Cov2 / Covid19 Krise entstanden.