Krisenmanagement in der globalen Sars-Cov2 / Covid19 Krise
Autor: Andreas Burkhardt, 24.05.2020
Oftmals zählt der erste Eindruck. So auch, wenn man zum ersten Mal eine der Metropolen Kaliforniens besucht. Ja, beim ersten Schritt aus dem Flughafen von Los Angeles lacht einem vermutlich die Sonne entgegen und Palmen vermitteln Urlaubsfeeling. Während der Uber-Fahrt zur Unterkunft fallen aber als nächstes Zelte auf. Nein, diese gehören keinen Outdoorfans oder Backpackern. Die Zelte gehören Obdachlosen. Sie haben ihr Lager unter Brücken, nur wenige Meter entfernt von überfüllten sechsspurigen Highways, aufgeschlagen. Es sind erschreckend viele.
Drogenprobleme sind weit verbreitet, staatliche Hilfe dagegen nicht
Falls man es rechtzeitig durch das Chaos auf LA’s Straßen für den Sonnenuntergang zum Venice Beach schafft, muss man feststellen, dass sich die traurigen Bilder auch hier nicht einfach ausblenden lassen, trotz schöner Umgebung. Mit gemischten Gefühlen beobachtet man das lebhafte Treiben an der Uferpromenade. Einerseits herrscht eine faszinierende Stimmung, geprägt von allerhand interessanten Charakteren, Sportlern, Sonnenanbetern sowie Touristen im Urlaubsmodus. Andererseits läuft man alle paar Meter an Obdachlosen vorbei, von denen viele ohne eigenes Verschulden in ihre missliche Lage geraten sind. Ein nicht unerheblicher Teil der Obdachlosenbevölkerung konsumiert regelmäßig Drogen (26%) oder Alkohol (38%) und leidet an psychischen Krankheiten (33%). Ich persönlich empfinde diese Anblicke und unkalkulierbaren Begegnungen immer wieder als sehr unangenehm, traurig und aufgrund der enormen Vermögensungleichheit in der Gesellschaft auch als beschämend. Es fällt schwer sich daran zu gewöhnen, obwohl ich während meines Auslandssemesters in San Diego in einer zu Venice Beach vergleichbaren Gegend wohnte. Zwar wurden vom Staat über die Jahre hinweg Milliarden aufgewendet, um das Problem in den Griff zu bekommen, die Maßnahmen reichen aber bei weitem nicht aus für eine Krise dieser Größenordnung. Besonders lokale Bestrebungen Obdachlosenunterkünfte zu verhindern sind oftmals erfolgreich, nicht zuletzt durch großzügige Spenden wohlhabender Anwohner.
Erschreckende Zahlen an den Küsten
Einer der wichtigsten Gradmesser für die Gesundheit einer Gesellschaft ist für mich der Umgang mit benachteiligten Menschen. Wie kann ein Land, das 2019 unglaubliche 732 Milliarden US-Dollar für das Militär ausgegeben hat und die besten Wissenschaftler, erfolgreichsten Unternehmen und reichsten Menschen der Welt beherbergt, nicht in der Lage sein dieses fundamentale gesellschaftliche Problem zu lösen? Die persönlichen Erlebnisse, aber auch die Statistiken zum Thema Obdachlosigkeit sind verstörend und wirken desillusionierend. Wie so oft in diesem Land (z.B. bei Covid-19 Todesfällen) sind auch bei der Obdachlosigkeit marginalisierte Bevölkerungsgruppen stark überrepräsentiert. Afroamerikaner machen 40% der Obdachlosen aus, während sie lediglich 13% der US-Bevölkerung darstellen.
Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsome hat das Problem offensichtlich auch erkannt: “Let’s call it what it is: It’s a disgrace that the richest state in the richest nation, succeeding across so many sectors, is falling so far behind to properly house, heal and humanely treat so many of its own people.”
Das Problem: Newsome, der eingesteht, dass das Problem zu lange einfach ignoriert wurde, war von 2004 bis 2011 auch schon Bürgermeister von San Francisco, einem der Brennpunkte der Krise. Wie die New York Times schreibt, haben die Wähler in Kalifornien über Jahrzehnte hinweg zahlreiche Versprechen zur Beendigung der Obdachlosenkrise zu hören bekommen, während das Problem gleichzeitig aber immer größer wurde. Zwar wurden in einigen Bundesstaaten in den letzten Jahren Erfolge erzielt und von Nichtregierungsorganisationen zahlreiche Initiativen ins Leben gerufen, in Kalifornien sind die Zahlen zuletzt aber wieder stark angestiegen. Derzeit leben über 26% der Obdachlosen Amerikas in Kalifornien. Dies lässt sich insbesondere auf die exorbitanten Wohnungspreise der angesagten Regionen der Bay Area, Los Angeles und San Diego zurückführen. Selbst Menschen, die einer regulären Arbeit nachgehen können sich diese Preise kaum noch leisten und leben in Autos (16.000 in LA) oder auf der Straße. Auch viele Veteranen und Studenten haben mit Obdachlosigkeit zu kämpfen.
Aktuelle Zahlen für 2019 sind der folgenden Grafik zu entnehmen. Als absolute Hotspots lassen sich Kalifornien und New York identifizieren. Aber auch in Florida, Texas, Washington, Oregon und Massachusetts leben zehntausende auf den Straßen, konzentriert auf Großstädte wie Boston, Seattle und Portland. Die Dunkelziffern dürften noch weitaus höher liegen. Die Obdachlosenbevölkerung der USA ist derzeit viermal höher als die Deutschlands (0,2% vs. 0,05%).
Die Coronakrise verschärft die Lage
Die Covid-19 Situation unter der Obdachlosenbevölkerung ist teilweise außer Kontrolle. Tests waren lange (oder sind noch immer) Mangelware und Ausbrüche der Krankheit verbreiten sich somit unter dem Radar der Gesundheitsbehörden. Eine Studie zeigte beispielsweise, dass von 147 positiv getesteten Obdachlosen lediglich 11 Personen Husten als Symptom angegeben hatten. In Obdachlosenunterkünften leben die Menschen zudem auf sehr begrenzter Fläche dicht zusammen, der Kontakt mit anderen lässt sich kaum vermeiden. Um die Menschen zu schützen wurden derweil in Großstädten wie San Diego Messehallen und Hotels zu Obdachlosenunterkünften umfunktioniert. Das Angebot wird aber nur teilweise angenommen, da sich viele Menschen draußen sicherer fühlen oder auch skeptisch gegenüber der Gefahr durch das Virus sind.
Doch besonders für Obdachlose ist die Gefahr groß. Die Altersstruktur der Obdachlosenbevölkerung macht die Menschen verletzlich und auch chronische Krankheiten sind keine Seltenheit. Eine Unterkunft in San Francisco schockte nach wochenlangen Warnungen vor einem Ausbruch mit 92 positiven Fällen. Doch aufgrund der vielen Unterstützungsprogramme und der Tatsache, dass Obdachlose sich im Normalfall nicht an überfüllten Orten wie in Nachtclubs und Stadien aufhalten, sind die Zahlen bislang glücklicherweise niedrig geblieben. Schlechte Nachrichten kommen dagegen von einer Studie, die berichtet, dass durch die coronabedingte Massenarbeitslosigkeit ein Anstieg der Obdachlosigkeit in den Vereinigten Staaten um bis zu 45% zu befürchten ist.
Besserung in Sicht?
Zwar lassen sich in einigen Bundesstaaten positive Trends ablesen, angesichts der sich abzeichnenden fatalen Konsequenzen der Coronakrise ist dies aber nur ein schwacher Trost. Den Golden State wird die Obdachlosenkrise wohl noch auf längere Sicht begleiten und leider auch prägen. Die Tatsache, dass Amerika über kein mit Deutschland vergleichbares „social safety net“ verfügt wird die Situation in Zeiten von Covid-19 weiter verschärfen. Verstörende Begegnungen mit offensichtlich leidenden und vergessenen Menschen zählen hier mittlerweile zum Alltag.
*Dieser Beitrag ist im Rahmen des Kurses Krisenmanagement in der globalen Stars-Cov2 / Covid19 Krise entstanden.