„Heade mõtete linn“ oder „Die Stadt der guten Gedanken“ – mit diesem Slogan wirbt die estnische Stadt Tartu. Seit Anfang April verbringe ich am hiesigen Deutschen Kulturinstitut (DKI) den zweiten Teil meines Auslandspraktikums. Das DKI Tartu fungiert als Begegnungsstätte für den deutsch-estnischen Austausch in Tartu und Südestland. Übergeordnetes Ziel des Instituts ist es, kulturelle Kontakte zwischen Estland und Deutschland zu knüpfen und zu vertiefen sowie ein buntes Bild von Deutschland und seiner Kultur zu vermitteln. Hierfür wird jährlich ein abwechslungsreiches Kulturprogramm bestehend aus Filmabenden, Konzerten, Theateraufführungen, Lesungen, Ausstellungen und Aktionen für Kinder organisiert. Meine Hauptaufgaben während des Praktikums waren vor allem die Mithilfe bei den Veranstaltungen und die Unterstützung im Tagesgeschäft der Kultureinrichtung.
In diesem Blogpost soll es aber mehr um die Stadt gehen und darüber, was ich in der Zeit abseits der Arbeit so unternommen und erlebt habe. Tartu hat knapp 100 000 Einwohner und ist damit nach der Hauptstadt Tallinn bereits die zweitgrößte Stadt Estlands. Somit ist Tartu auch recht übersichtlich und das meiste lässt sich fußläufig erreichen. Durch die ehemalige Hansestadt fließt der Fluss Emajõgi und die große Bogenbrücke führt direkt zum Rathausplatz. Eines der meist fotografierten Motive, welches auch viele Postkarten von Tartu ziert, ist sicherlich das rosafarbene Rathaus mit den zwei „Küssenden Studenten“ davor, eine Statue umgeben von einem Springbrunnen. Ausgehend von diesem zentralen Punkt lohnt es sich, die Altstadt zu erkunden. Prägend für Tartus Stadtbild ist definitiv das große klassizistische Hauptgebäude der Universität. Tartu gilt als Studentenstadt und in der ganzen Stadt finden sich Bauwerke, die zur Universität gehören. Während Tallinn als Hauptstadt natürlich in vielerlei Hinsicht einiges zu bieten hat, wird Tartu gern als intellektuelles Zentrum des Landes angesehen. Zu empfehlen sind auch die gemütlichen Cafés in den Straßen des Zentrums. Besonders zu erwähnen wäre hierbei das „Café Werner“, bei dessen Kuchenauswahl es schon einmal etwas länger dauern kann, bis ich mich für eine der Kreationen entschieden habe. Für einen Verdauungsspaziergang bietet sich der Domberg mit der eindrucksvollen Ruine der Domkirche an. Tartu kann auf eine lange Geschichte zurückblicken und auf dem Domberg und in der Stadt sind einige Statuen von Wissenschaftlern und Forschern, auch mit deutsch-baltischem Hintergrund, verteilt. Neben dem Zentrum sind auch die weiteren Stadtteile Tartus einen Besuch wert. Für mich versprüht „Supilinn“ („Suppenstadt“) mit seinen Holzhäusern und Adressen wie „Kartoffel-, Bohnen- oder Erbsenstraße“ ein ganz besonderes Flair.
Trotz der Überschaubarkeit der Stadt nehme ich sie als lebendig wahr, es ist immer etwas geboten und mir wurde nie langweilig. Es wird großer Wert auf Kultur gelegt, wovon mitunter die vielen Museen zeugen. Besonders gern besuchte ich die ab und zu stattfindenden Stadtfeste, auf welchen handgemachte Produkte und lokale Lebensmittel verkauft werden. Mein Favorit: orangefarbener Sanddornsaft. Mit Craft Beer Tasting, Street Food Festival und veganem Brunch steht die Stadt auch in modernen Events anderen Städten in nichts nach. In der letzten Aprilwoche wurden in Tartu die traditionellen Studententage veranstaltet, welche mit gratis Pfannkuchen auf dem Rathausplatz begannen. Im Rahmen dieses Events wurden etliche Veranstaltungen in der ganzen Stadt angeboten. Ein Highlight war ein Konzert zur Walpurgisnacht, bei dem die Band in der Mitte der Bogenbrücke über dem Emajõgi performte. Vom Ufer des Flusses aus betrachtete das Publikum das Konzert, welches seinen Abschluss in einem großen Feuerwerk fand. Das Ende der Studententage bildete ein Songfestival mit ausschließlich estnischen Liedern. Die meisten Besucher konnten die Lieder auswendig mitsingen, was sie auch tatkräftig machten. Allgemein haben Liederfeste eine lange Tradition in Estland und im ganzen Baltikum und werden als Gelegenheit, nationale Identität zum Ausdruck zu bringen, angesehen. Dies zeigte sich auch am großen Studentenfestival „Gaudeamus“, welches alle vier Jahre in einem der baltischen Länder ausgerichtet wird. Für drei Tage kamen rund 4000 Sänger_innen und Tänzer_innen aus Estland, Lettland und Litauen in Tartu zusammen, um gemeinsam „fröhlich zu sein“. Während des Wochenendes fanden verschiedene Auftritte der Musik- und Tanzgruppen statt. Ich habe mir die Eröffnungszeremonie mit Fackelzug, Rede der estnischen Präsidentin Kersti Kaljulaid und Konzert eines Chors und Orchesters angeschaut. Besonders beeindruckend und interessant fand ich es dabei, wie selbstverständlich die jungen Leute ihre jeweiligen Volkslieder zum Besten gaben und auch die Menschen auf der Straße mitsangen. Dieses Liederfeste waren wohl die estnischsten Veranstaltungen, die ich bisher besucht habe.
Anfangs versuchte ich u.a. über Erasmus-Veranstaltungen andere Studierende kennenzulernen. So fuhr ich beispielsweise auf einen vom ESN-Netzwerk organisierten Ausflug nach Südestland mit. Wir paddelten mit Kanus auf einem ruhigen Fluss und nach einer kleinen Stärkung mit Borschtsch und hausgemachtem Brot stand der „Besteigung“ des mit 318 m höchsten Bergs im Baltikum nichts mehr im Wege. Durch das „Welcoming programme” des estnischen Staats hatte ich die Möglichkeit, zwei Monate lang an einem kostenlosen Estnischkurs teilzunehmen. Zwei Mal pro Woche wurden wir abends in die Grundzüge der estnischen Sprache eingeführt. Bald hatte sich das „After-Course-Beer“ eingebürgert und wir konnten unsere frisch erlernten Kenntnisse gleich in der Praxis ausprobieren: „Üks õlu, palun!“ („Ein Bier, bitte!“). Durch die unterschiedlichen Nationalitäten in unserer Gruppe haben wir zurzeit natürlich auch immer einen Anlass, um uns zum Public Viewing zu treffen und Deutschland, Spanien, Brasilien, Ägypten oder den Iran anzufeuern.
Die Inschrift auf der Engelsbrücke „Otium reficit vires“ bedeutet übersetzt „Muße/Ruhe erneuert die Kräfte“. In Tartu laden viele Grünflächen, Parks, Flussstrände und der Botanische Garten zum Ausruhen und Kräftetanken ein. Auch ich werde die eine Woche noch genießen, bis der erste Teil meiner Zeit im Ausland bereits zu Ende geht.
Ich hoffe, ich konnte euch einen interessanten Einblick in mein Tartuer Leben geben und ich habe definitiv vor allem gute Gedanken, wenn ich mich an die drei Monate in der „Stadt der guten Gedanken“ zurückerinnere.