Die meisten von uns werden dann und wann in ihrem Leben mit Großstädten, Metropolen, Mega-Städten konfrontiert. Sei es in den Nachrichten oder im Urlaub beim Städtetrip, der ein oder andere lebt vielleicht auch in einer Millionenstadt wie Berlin. Die deutsche Hauptstadt hat je nach Quelle knapp 4 Millionen Einwohner, genauso viele Menschen leben auch in Costa Rica. New York kommt auf 8,6 Millionen Einwohner, Chengdu zählt knapp das doppelte. Damit leben in Chengdu in etwa so viele Menschen, wie es chilenische Staatsbürger gibt – eine ganze Menge, oder rund 16 Millionen.
Wer an China denkt, dem kommen meist Bilder von vollen Straßen, riesigen Menschenmassen mit Mundschutz, die chinesische Mauer und vielleicht auch das ein oder andere Reisgericht in den Sinn. Nun mag das nicht unbedingt falsch sein, doch ist es eben nur ein winzig kleiner Ausschnitt des Wimmelbildes China. Die folgenden Zeilen halten meinen zweiten Eindruck vom Leben in Chengdu fest und beschreiben ein wenig das Leben in einer „second-tier city“ in China.
Das Thema Verkehr spielt eine wichtige Rolle in Chengdu, ist die Stadt doch keineswegs zu Fuß erlaufbar. Meiner Meinung nach ist der gefährlichste Ort der ganzen Stadt die Straße. Es ist ein in sich geschlossenes System, dessen Gesetzmäßigkeiten dem Außenstehenden nicht ersichtlich sind. In zwei Monaten habe ich nur eine Regel kennenlernt: Der dreistere gewinnt. Was es an Hupen und Klingeln zu viel gibt, wird beim Licht gesparrt. Fahrradfahrer und Motorroller (fast ausschließlich elektrisch) haben meist gar kein Licht, Autofahrer halten dessen Benutzung auch für eher optional, selbst wenn die Dunkelheit bereits hereingebrochen ist. Da es ausreichend Straßenbeleuchtung gibt, wäre das ein vielleicht noch händelbares Problem, wäre da nicht die Sache mit der Einhaltung der Spuren. Es gibt eine Spur für Zweiradfahrer – theoretisch. Praktisch fahren da auch Busse, Taxen und Autos, die es wohl sehr eilig haben. Nicht selten saß ich schon auf meinem Fahrrad im halben Meter Abstand zu einem Bus, Rollerfahrern und Fußgängern. Wenn ich morgens mit dem Fahrrad zur Arbeit fahre, muss ich aufassen, dass mich ein auf der gleichen Spur entgegenkommender Roller nicht umbraust, und ich den Skateboarder mit Knöpfen im Ohr nicht mitnehme. Auch auf den Fahrbahnen für Autos geht es heiter und laut zu. Es scheint sich am besten mittig auf der Fahrbahnmarkierung zu fahren, sodass man bei Bedarf schnell in die andere Spur wechseln kann. An Kreuzungen hat generell der Vorfahrt, der sie sich nimmt, Mut zur Lücke bekommt hier eine ganze neue Bedeutung. Aber eine große Risikobereitschaft scheint weit verbreitet. Gefühlt einer von 100 Rollerfahrern (auch Motorrad) trägt einen Helm, bei Fahrradfahrern vielleicht einer von 1000. Dafür haben Zweifahrradfahrer alle hübsche Schirmchen an ihrem Fahrgestell, sollte es plötzlich regnen. Dann wird das Handy auch nicht nass, was man beim Fahren noch betätigt, während man mit der anderen Hand das Kind hält, was natürlich auch ohne Helm mitfährt. Das Lenken übernimmt dann der Hund. Interessant zu beobachten ist (das kann ich aus meinem Büro im 25. Stock besonders gut) eine allgemeine Vorliebe für weiße Autos. Neben den grünen Taxen ist der Verkehr hauptsächlich von weißen Fahrzeugen geprägt. Von Volkswagen, über Audi, Porsche, Maserati ist dabei alles vertreten.
Neben dem überirdischen Verkehr geht das geordnete Chaos unterirdisch weiter. Die U-Bahn ist eigentlich nur eins: voll. Hier erfüllen sich nahezu alle Klischees, schieben, schubsen, drängeln, das Handy nicht aus dem Blick. Ein Bild, das sich wohl weltweit in jeder U-Bahn einer größeren Stadt zeigt. Interessant ist die obligatorische Sicherheitskontrolle an ungelogen jeder U-Bahn-Station. Ähnlich wie beim Flughafen wird das Gepäck durchleuchtet, jede Flüssigkeit wird gescannt oder es wird fachmännisch an der Wasserflasche geschnuppert.
Tritt man dann wieder ans Tageslicht, wird man meistens von einem vertrauten Grau begrüßt. Die Sonne vermisse ich hier wohl am meisten. Jeder Sonnen-Tag ist wertvoll und jeder Sonnenstrahl wird begierig eingefangen (von den ganzen Expats, Einheimische zücken schnell den Schirm). Mittlerweile ist der Herbst auch hier angekommen und es ist frisch geworden. Zur Zeit haben wir um die 15 Grad, es ist also nicht wirklich kalt, doch die hohe Luftfeuchtigkeit und die mangelnde Isolierung der Häuser führen dazu, dass es sich kälter anfühlt als es tatsächlich ist. Mit den sinkenden Temperaturen nimmt die Luftverschmutzung zu. Aktuell bewegen wir uns bei Werten von 150. Stuttgart weist Werte von ca. 40 auf, ab 50 gilt die Luft als ungesund. Im Winter werden Werte von bis zu 400 erwartet. Seit einer Woche habe ich die Atemschutzmaske immer in der Handtasche dabei. Bei guter Sicht sollte ich von meinem Büro aus die Berge sehen, die im Westen an Chengdu grenzen. Ich habe sie bisher zwei mal gesehen. Beim ersten Mal musste ich meine Brille aufsetzen, da ich meinen Augen kaum glauben konnte, wo auf einmal diese Berge herkamen. Auch bei niedriger Luftverschmutzung sind sie nicht klar zu sehen, dafür ist der Smog zu dicht, aber man kann sie gut erahnen. An guten Tagen.
Kulinarisch hat China alles zu bieten was man sich wünscht. Von lokalen Kantinen, über Garküchen am Straßenrand, Fast-Food-Restaurants, Hot-Pot-Läden, Nudelrestaurants, internationale Küche und Ketten, man findet in Chengdu alles, zu jeder Tages- und Nachtzeit, in jeder Preisklasse. Sichuan, die Provinz deren Hauptstadt Chengdu ist, ist besonders bekannt für sein scharfes Essen und den berüchtigten Hot-Pot. Dazu wird eine scharfe Brühe erhitzt, in der man dann selbstständig Fleisch, Gemüse und Tofu gart. Das ganze ist unter Einheimischen wie Gästen äußerst beliebt und ist neben dem kulinarischen Erlebnis auch ein schönes gesellschaftliches Zusammenkommen. Es gibt bestimmt in jeder Straße mindestens ein Hot-Pot-Restaurant. Bei dieser Vielzahl frage ich mich oft, ähnlich wie bei den hunderttausend kleinen Lokalen für Nudel- und Reisgerichte, wie die sich denn halten können, wenn auf 100 Metern zehn mal das gleiche geboten wird, nur ein bisschen anders. Und dann fällt mir wieder ein, wie viele Menschen in Chengdu leben und mittags etwas Warmes essen möchten. Dann verwerfe ich meine Frage wieder.
Neben den unzähligen Restaurants verstecken sich in der Stadt auch viele viele Cafés. In unscheinbaren Hinterhöfen, Seitenstraßen oder auf den Dächern von Shopping-Mails trifft man auf die schönsten Rückzugsorte. Manchmal sind sie als Buchladen getarnt, ein andermal findet man vor lauter Pflanzen den Tresen nicht. Doch eines haben sie alle gemein: sie sind liebevoll eingerichtet und bieten Raum, mal durchzuatmen und denn Stress hinter sich zu lassen. Bei Kaffee, Tee und Kuchen kommen viele Chinesen zum Lernen in die Cafés, andere haben Fotograf und Kamera im Schlepptau, wieder andere wollen einfach nur ein gutes Buch in netter Umgebung lesen. Neben den individuellen Lokalen gibt es in der Stadt natürlich auch eine Vielzahl an Ketten, für Kaffee und Tee. Starbucks hat die Teenation längst erobert und ist an jeder Ecke zu finden, kann aber nicht mit der Dichte an Teeläden mithalten. In der Straße des Konsulats gibt es, ich möchte nicht lügen, bestimmt 30 Teeläden. Dort kann man kalten, grünen, schwarzen, Jasmin-, Früchte- oder Bubbletea erwerben, die Auswahl kennt keine Grenzen. Für maximal zwei Euro wird man in der ganzen Stadt mit einem halben Liter Tee versorgt, nach Wunsch mit viel oder wenig Zucker, kalt, sehr kalt, ein bisschen kalt, eher warm oder doch heiß.
Das Freizeitangebot in Chengdu ist wohl ungefähr so groß wie das Angebot an verschiedenen Teeläden. An ungefähr jeder großen Kreuzung (da wo vier vier-spurige Straßen in jede Richtung jeweils aufeinander treffen), gibt es eine Mall, eine riesige Mall möchte man betonen. Auch hier stelle ich mir öfters die Frage, ob es denn für so viele Produkte überhaupt die nötige Nachfrage gibt. Die Antwort ist natürlich nein, dennoch ist die Kaufkraft angesichts der hohen Bevölkerungsdichte innerhalb der Stadt auch eine andere. Von chinesischen Modeketten, über die bekannten Luxuslabels finden sich hier auch europäische Ketten wie H&M und Zara. Neben dem Shopping-Erlebnis hat die Stadt aber noch so viel mehr zu bieten.
Trotz des Großstadtflairs und vielen internationalen Einflüssen hat sich die Stadt auch viel Kultur erhalten. Das beginnt bei den abendlichen Tanzgruppen im Park, den Männern die unter der Brücke mit Klappstuhl und Thermoskanne ausgestattet Majong spielen und endet bei der berühmten Sichuan-Oper und den vielen Bars wo jeden Abend chinesisches Live-Musik gespielt wird. Wer einen Ausflug am Wochenende plant, kann eine der vielen Kunstausstellungen besuchen, die nicht selten mit deutscher Kooperation stattfinden. Junge Expats finden sich unter der Woche in Bars zu Quizduellen zusammen, um am Wochenende gemeinsam Partys in kleinen Clubs in gewöhnlichen Wohnhäusern zu besuchen. Ob Konzerte internationaler und chinesischer Künstler, Sportwettbewerbe, Yogagruppen, Fitnessstudios, Fotografiekurse oder Filmfestivals, in Chengdu findet jeder wonach er sucht. Manchmal muss man ein bisschen intensiver suchen, doch wenn man die richtigen Quellen gefunden hat, dann kann man das ganze Angebot der Stadt kaum fassen.
Alles in allem ist es wohl nicht gelogen, wenn ich behaupte, dass Chengdu eine sehr lebenswerte Stadt ist. Sollte man doch mal gelangweilt sein oder vom Trubel genervt, setzt man sich einfach in den Zug und fährt in die Berge. Wem Chengdu zu klein wird, der setzt sich drei Stunden in den Flieger und macht einen Ausflug nach Peking, wahlweise auch mit dem Zug erreichbar. Doch so langsam ist mir das Stadtbild Chengdu vertraut geworden, mit seinen Hochhäusern, modernen Wohncompounds und den niedrigen Mehrfamilienhäusern dazwischen. Man mag es vielleicht nicht glauben, doch die Stadt ist grüner als man glaubt, es gibt viele Parks und viele Seitenstraßen wurden alleeartig bepflanzt, sodass es eine Freude ist, dort mit dem Fahrrad lang zu düsen (jetzt nicht mehr, da mir der Wind die Finger einfriert). Auch wenn Chengdu extrem weitläufig ist und sich mein Leben nur innerhalb der ersten beiden Ringroads, vorrangig im Südosten der Stadt, abspielt, so ist doch vieles auch bequem mit einem der vielen öffentlichen Fahrrädern zu erreichen. In dem Mix aus Ringstraßen und Schachbrett findet man sich meist ganz gut zurecht und man sieht mehr von Chengdu als in der U-Bahn.
In einer so großen Stadt leben natürlich auch viele Ausländer. Konsulate von insgesamt 13 Ländern sind in der Stadt ansässig. Doch begegnet man anderen Expats nicht einfach auf der Straße, dafür ist die Stadt zu weitläufig. Doch wenn man einmal die Bars gefunden hat, wo sich immer wieder die gleichen Gesichter rumtreiben, findet man schnell Anschluss und bemerkt vielleicht sogar, dass man im gleichen Compound wohnt. Chengdu ist eben doch nur ein großes Dorf – haha.
Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass der Text an der ein oder anderen Stelle überspitzt sein könnte. Dies dient in den meisten Fällen der rhetorischen Qualität des Textes und der Unterhaltung des Lesers. Ich erhebe keinen Anspruch auf absolute Richtigkeit. Der Text soll zeigen, wie ich den Alltag hier in Chengdu wahrnehme und erlebe – so auch der Titel. Es ist ein persönlicher Eindruck, Impressionen, Erfahrungen, die ich gemacht habe. Es ist keine Tourismusbroschüre der Stadt und auch kein China-Erklärbär. Anregungen, Erfahrungen und Gegenmeinungen sind jederzeit willkommen. Um den Bogen zu schließen: Wer meinen ersten Post zu China gelesen hat, der sieht vielleicht die ersten Veränderungen in meiner Wahrnehmung. Auch wenn Chengdu am Ende mein Herz vielleicht nicht ganz so berührt haben wird wie Bogotá (ein endgültiges Urteil fälle ich Ende Januar), so kann ich dennoch sagen, dass ich angekommen bin, angekommen in einem Alltag, in einer Stadt, in der ich durchaus sehr zufrieden bin.
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