Ach Nepal. Dieses Land ist wirklich ein Traum. Vergesst alles, was ich euch über Kathmandu geschrieben habe. Es war ein ignoranter, eingeengter, einseitiger, vom Kulturschock bedingter Blick, der niemals dem Land in seiner Fülle gerecht werden kann.
Als ich das große Vergnügen hatte, Jakob und Ernest zu treffen, die gerade unter dem Motto „Pedal for Humanity“ mit dem Fahrrad von Köln nach Vietnam fahren, wurde mir so vieles bewusst. Einen Monat waren sie schon unterwegs durch Nepal mit dem Fahrrad parallel von Westen her am Himalaya-Gebirge entlang. Sie trafen bis Pokhara keinen Ausländer, aßen zwei Mal täglich Daal Baat (Kohlenhydrate pur: Reis, Linsen, wenig Gemüse) und überwinterten ohne eine einzige warme Dusche. Und dennoch auf meine kritische Frage, ob sie nicht von Nepal enttäuscht gewesen seien, die sofortige Antwort: Auf keinen Fall! Eine geniale Zeit war es, ein wunderschönes Land, ein herzliches Volk, eine beeindruckende Gastfreundschaft, eine Landschaft ohne Worte.
Dieses Land, das sich so groß fühlt und doch mit der Deutschlandkarte nicht mithalten kann, ist so vielfältig wie unverständlich. Ein Naturparadies in dem jeder auf seine Kosten kommt, der Seen, Wälder, Wiesen, Schnee, Berge und Gipfel schätzt. Das macht im nepalesischen Binnenland sogar das Meer wett, für das Kalkutta die nächstliegende Möglichkeit ist. Trotz mangelnder Infrastruktur, Erdbebenschäden noch zwei Jahre danach und wenig Investition ist es dennoch jede Reise wert, so entlegen sie auch sein mag. Wenn ich das Werbebuch über die Facetten Nepals durchblättere, dann weiß ich, dass ich sicher wiederkommen werde. Dann werde ich in den Fernen Osten fahren und in Ilam die Teeberge durchstreifen. Werde mich hoch nach Mustang kämpfen bis zur tibetischen Grenze. Werde im Westen Richtung Kaschmir laufen und mich auf Suche nach den verwaschenen Spuren zwischen China, Tibet und Indien begeben. Werde nach Lukla fliegen und mich zum Everest Basecamp aufmachen.
Nepal braucht Zeit. Es ist alles hier, alles vorhanden. Nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich und steht nur für Neugierige, für Geduldige offen. Viel gibt es zu sehen, das nicht im Reiseführer steht. Viel bedarf des Hinterfragens, des Unverständnisses, des Zuschauens. Selbst habe ich mich blenden lassen von meiner westlichen, postkolonialen, globalisierten Sicht, die so vieles ausblendet und nur die eigenen Konzepte erlaubt. Doch Nepal lässt sich mit dieser Brille nicht blicken. Nepal will erfahren werden, will herausfordern, will vor den Kopf stoßen und wütend machen. Es ist kein Land von Warmduschern, sondern von zähen Bergbewohnern, die in der Großstadt ähnlich vor den Kopf gestoßen werden wie ich. Die Landflucht ist enorm, das Kathmandu Tal der einzige Anziehungspunkt, an dem es Geld, Jobs und Zukunft gibt. Nepal ist weit, so weit, und so wenig verknüpft, dass viele Dörfer immer noch tagelange Wege von der 3-Millionen-Metropole entfernt sind.
Doch die Metropole lasse ich in 5 Kilometern Fußweg hinter mir, laufe gen Norden Richtung Shivapuri Nationalpark. Schnell tragen mich meine Füße nicht mehr über Asphalt, zwischen Taxis, Autos, Motorradhorden und Smog hindurch. Schnell bin ich von leuchtend grünen Weizenfeldern umgeben, die sich terrassenförmig ausbreiten. Hier, in Sichtweite vom Stadtzentrum von Kathmandu, liegen Stroh und Jutebeutel zum Trocknen auf Wellblechdächern, die einstöckige, mit Lehm verputzte Wohnhäuser gegen die kalten Nächte schützen. Bambuskonstruktionen zeigen die geplanten Gewächshäuser, überall wird gebaut. Die Dorfbewohner grüßen, lächeln, freuen sich über das simple „Namaste“. Eine Frau reicht mir instinktiv ihr Stück Granatapfel, von dem sie gerade isst. Jeder hilft und jeder täte, was er könnte, würde ich in Schwierigkeiten geraten. Wo bin ich 5 Kilometer außerhalb von Berlin oder Frankfurt? Auf dem Feld?
Es ist absurd und spannend zugleich. Die Kontraste sind groß, nicht vereinbar. Wie geht es wohl dem Dorfbewohner, der von weit her kommt und zum ersten Mal die große Stadt erblickt. Auch er wäre ähnlich kulturgeschockt wie ich, würde sich am liebsten die Ohren zuhalten bei jedem Hupen. So viel habe ich verstanden bei dieser kleinen Wanderung. Nicht nur ich bin untauglich für die Großstadt, die sich mir hier bietet. Alle sind sie es und doch machen wir alle das Beste daraus. Die Stadt birgt Chancen und Arbeit und Zukunft und Wohlstand und das Einlösen aller Versprechen. Sie ist attraktiv, gibt alles, wovon ein Mensch träumen kann, sobald er anfängt groß zu träumen. Doch zu schnell kommen zu viele Träumende, zu schnell wird alles zu viel, zu attraktiv zu sein birgt Gefahren. Die Stadt kann es nicht händeln, in so wenigen Jahren zu explodieren. Sie kann keinen drei Millionen Menschen sauberes Wasser bieten, ohne ein geregeltes Straßensystem, eine Infrastruktur, ein System dahinter zu besitzen. Zu schnell hat sich in Nepal zu viel geändert. Das Königreich ist kaum 10 Jahre her, die Demokratie frisch, von Maoisten regierte, die ihre eigene Macht missbrauchen und nicht im Sinne des Allgemeinwohls einsetzen.
Nepal braucht Kreativität, braucht Ideen, braucht Visionäre. Braucht Initiativen und kluge Köpfe, die Kraft und Energie haben, an das Gute zu glauben. Durch Rücksendungen und eine emigrierende Jugend flieht auch die Kraft der Erneuerung. Die Politik muss zurück zur Sache finden, muss über Inhalte sprechen, muss zeigen, dass sie eine Demokratie ist. Eine Stimme des Volkes, dem es nicht gut geht. Das von schwersten Erdbeben heimgesucht wird, ohne daraufhin Entschädigung zu erhalten. Es braucht Stadtplaner, die nachhaltig neudenken können. Es braucht Straßenbauer, die kontinuierlich konstruieren. Und es braucht Jugend, die hinterfragt, kritisiert, überdenkt. Die Jahre werden zeigen, wohin sich Nepal bewegen wird. Ob es den Sprung schafft und die Stolpersteine überwindet, die der jungen Demokratie auf so viele Arten in den Weg gelegt werden. Klar ist: Es muss ein Ruck durch Nepal gehen.
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