Langsam nähert sich meine Zeit in Mexiko dem Ende zu; in drei Wochen sitze ich schon wieder im Flieger in Richtung Stuttgart. Da im Praktikum zur Zeit nicht so wahnsinnig viel los ist, habe ich immer wieder Zeit gehabt um mich mit anderen Dingen zu beschäftigen – zum Beispiel auch, über meine bisherigen Erfahrungen im Ausland nachzudenken. Mit Seoul als “Home Base” meines ersten Semesters hatte ich im Juni die Möglichkeit, mit Arthur, einem französischen Freund aus Seoul, eine Woche lang durch Japan zu reisen. Ich hatte schon so oft gehört, dass Japan so ein tolles Reiseland sein soll, dass die Menschen unwahrscheinlich höflich sind und dass die kulturellen Schätze zutiefst beeindrucken. Ich habe mir immer gedacht, das sind Sachen, die man im Nachhinein doch eigentlich über jedes Land sagt, das man besucht hat, und das es deswegen einfach nur so gesagt wird. Boy was I wrong.
Denn Japan hat meine Erwartungen in jeder Hinsicht übertroffen. In den acht Tagen haben wir acht Städte und Orte besucht, waren immer den ganzen Tag unterwegs und haben versucht, so viel wie möglich zu sehen, ohne dass es stressig wird.
Haupttransportmittel waren für uns in dieser Zeit die Züge der Japan Railway, vor allem das geniale Shinkansen-Schnellzugnetzwerk. In Seoul noch hatten wir uns den Japan Railpass besorgt, mit dem man eine Woche lang in fast allen Shinkansen-Zügen mitfahren kann. Wir haben lange gezögert, da die Railpässe zu einem ziemlich heftigem Preis von 250€ pro Woche verkauft werden. Am Ende haben wir uns aber doch dafür entschieden – und es hat sich auf jeden Fall gelohnt. Mit Bussen hätten wir in der kurzen Zeit längst nicht so viel sehen können, da wir viel mehr Zeit in Unterwegssein hätten investieren müssen. Wir haben auch das Maximum aus dem Pass rausgeholt: In der einen Woche sind wir hochgerechnet für gute 700€ Zug gefahren.
Der japanische Bahnverkehr hat uns beide begeistert und lässt die deutschen ICEs oder französischen TGVs wie Bimmelbahnen aussehen – nicht nur vom ästhetischen her. Von den 30-40 Zügen, die wir in der Woche genommen haben, ist nicht ein einziger auch nur eine halbe Minute zu spät abgefahren. Das System ist beeindruckend: Alle Schnellzüge haben fest zugeordnete Gleise und Bahnsteige, und müssen so auf keine anderen Züge Rücksicht nehmen. Die Shinkansen-Bahnhöfe bestehen immer aus mindestens vier Gleisen, zwei mit Bahnsteig und zwei für durchfahrende Züge (die dann mit ihren 250-300km/h durch den Bahnhof brettern). Schnell haben wir auch gelernt, dass es nicht mal nötig ist, auf einen Fahrplan zu schauen. Wo wir auch waren, haben wir nie länger als 15 Minuten auf den nächsten Schnellzug warten müssen.
Distanzen spielen deswegen auch eine ganz andere Rolle. Gleich am zweiten Tag haben wir uns auf den Weg nach Hiroshima gemacht, was von Osaka um die 350km entfernt ist – und haben für diese Strecke 80 Minuten gebraucht. Diese Erfahrung haben wir mehrere Male gemacht: Von Osaka nach Kyoto (60km) fährt alle vier Minuten (!!) ein Shinkansen und braucht für die Strecke 12 Minuten. Von Kyoto aus waren wir für die knapp 450km lange Strecke nach Tokyo 2 1/2 Stunden unterwegs (zum Vergleich: selbst auf der nagelneuen Trasse zwischen München und Berlin braucht der ICE Sprinter vier Stunden).
Kurz gesagt: Die Zugfahrten in Japan sind jedes Mal ein reines Vergnügen gewesen. Unglaublich höfliches Personal, picobello saubere Bahnhöfe, und Pünktlichkeit auf die Minute genau. Da kann sich die Deutsche Bahn ruhig mal ein paar (oder viele, let’s be honest) Scheiben abschneiden! Genug aber von Zügen, es gibt noch sehr viel Anderes zu erzählen – ein paar Highlights möchte ich gerne hervorheben.
Hiroshima
Knapp drei Wochen nach Obamas historischem Aufenthalt in Hiroshima haben wir die Stadt besucht. Historisch, weil er als erster US-Präsident genau dort war, wo am 6. August 1945 um 8:15 morgens das Atomzeitalter begann. Im Hiroshima Peace Memorial Park hat er mit Premierminister Abe Shinzo eine Rede gehalten – und dieser Park war Hauptausflugsziel des Tages. Ich hatte ein paar Wochen zuvor einen fantastischen Artikel gelesen, veröffentlicht am ersten Jahrestag der Explosion, der sechs Überlebenden in den folgenden Tagen und Wochen folgt und in entsetzlichem Detail die Folgen der Bombe beschreibt (ein sehr langer Artikel, aber wirklich jedem zu empfehlen – nicht umsonst werden über diesen Artikel andere Artikel geschrieben oder er als berühmtester Artikel des New Yorkers bezeichnet). Trotz der Detailtreue des Artikels und seinen ausschweifenden Erzählungen und Beschreibungen war ich nicht auf das vorbereitet, was uns erwartete.
Das wohl berühmteste und imposanteste Gebäude sind die Ruinen des ehemaligen Ausstellunggebäudes am Ufer des Ota Flusses. Obwohl das Gebäude nur knapp 600 Meter vom Zentrum der Explosion entfernt war und die Explosion sofort jede Person im Gebäude umbrachte, blieb es als einziges in der Gegend stehen – und so findet man es noch heute auf. Im ganzen Peace Memorial Park finden sich Hinweise auf die zerstörerische Kraft der Explosion. An einem vielleicht vier mal vier mal zwei Meter großen Erdhügel findet man eine kleine Hinweistafel, auf der steht, dass sich dort in einer unterirdischen Krypta die eingeäscherten Überreste mehrerer zehntausend Menschen befinden, die man nach der Explosion nicht identifizieren konnte, oder die wegen fehlender überlebenden Verwandten nicht abgeholt werden konnten.
Das Hiroshima Peace Memorial Museum, das sich ebenfalls im Park befindet, hat eine ausgezeichnete Ausstellung über den Abwurf der Bombe und seine unmittelbaren Folgen. Ein Modell zeigt den Grad der Zerstörung der Stadt nach der Explosion. Man sieht originale Steinfassaden, auf denen die Schatten der Menschen, die davor standen, durch die Explosion permanent eingebrannt sind. Kurz, man verlässt die Ausstellung sehr betroffen und nachdenklich – haben die Atomwaffen von heute doch um ein Vielfaches an Explosionskraft als die aus dem 2. Weltkrieg (ganz abgesehen davon, dass es weltweit um die 16.000 Atomwaffen gibt).
Miyajima
Mit Zug und Fähre gondelten wir am selben Tag noch weiter zur ca. eine Stunde entfernten Insel Miyajima, die vor allem für ihren Shinto Schrein direkt am Meer berühmt ist. Schon bei der Anfahrt sieht man vom Schiff aus den knallroten Torii-Bogen. Da gerade Ebbe war, konnte man vom Strand aus bis zum Tor und darunter hindurch laufen. Wir waren zu einem perfekten Zeitpunkt gekommen, denn bis zu unserer Abfahrt hatte die Flut das Tor schon wieder eingeholt. Die Insel ist wunderschön, mit einem gemütlichen Städtchen und mehreren herrlichen Tempelanlagen, von denen eine direkt auf dem Strand gebaut ist. Vervollständigt wird die Kulisse durch die vielen wilden Rehe, die frei auf der Insel herumlaufen.
Der Shinto Schrein ist den Töchtern der Shinto-Göttin der Meere und Stürme gewidmet sowie dem Bruder der Sonnengöttin Amaterasu (die der Legende nach auch Gründerin der immer noch herrschenden japanischen Kaiserdynastie ist). Um die Heiligkeit und Reinheit der Insel zu erhalten, hat man den Schrein auf Stützen direkt auf dem Strand gebaut, damit er bei Flut wie vom Rest der Insel getrennt erscheint. Tatsächlich war es dem normalen Volk lange verboten, die Insel zu betreten. Sie durften nur zur Flut mit einem Boot durch das Torii-Tor zum Schrein fahren. Noch heute versucht man, Geburten und Tode auf der Insel zu vermeiden: schwangere Frauen, deren Stichtag aufrückt, sowie Senioren oder unheilbar Kranke, deren Tod bald zuvorstehen scheint, müssen die Insel verlassen und werden auf’s Festland gebracht. The more you know!
Himeji
Die ersten Tage der Reise waren wir in Osaka stationiert, der drittgrößten Stadt des Landes. Von dort aus konnten wir unsere Ausflüge nach Hiroshima und Miyajima starten, sowie am letzten Tag auch nach Himeji. In Osaka selbst ist die alte Burg ein Touristenmagnet, doch haben wir uns nach einem Tipp von unserem Lonely Planet Reiseführer (sehr zu empfehlen) dafür entschieden, mit dem Shinkansen ins knapp einhundert Kilometer entfernte Himeji zu fahren, wo uns die “Königin aller japanischen Burgen” erwarten sollte – und wir wurden nicht enttäuscht.
Die Burg in Himeji ist eine der größten und besterhaltenen Burganlagen Japans und mühevoll restauriert. Stundenlang sind wir durch Garten und Burg geschlendert – und haben im letzteren stets unsere Schuhe ausziehen müssen! Tatsächlich haben wir alle Schreine, Tempel oder Burgen immer sockig besichtigen müssen, um diese Räume sauber und rein zu halten. So haben wir Stück für Stück die japanische Kultur kennenlernen dürfen – und haben gemeint, festzustellen, wie wahnsinnig geordnet und “zivilisiert” der Alltag abläuft. Selbst ein Kartenspiel aus dem Mittelalter, das uns in Himeji vorgestellt wurde, scheint im deutschen Pendant eher fehl am Platz: zwei Spieler ziehen Karten, auf denen Teile eines Gedichts stehen. Wer das Gedicht korrekt vervollständigen kann, darf die Karte behalten. Trinkspiel, anyone?
Richtig entspannen konnten wir uns nach der Burgbesichtigung im angrenzenden Koko-en Landschaftsgarten, in dem man ganz schnell den Trubel und die Sorgen des Alltags vergisst (nicht, dass wir auf unserer Reise eigentlich irgendwelche Sorgen hatten). Auch hier hätte man stundenlang durch den Garten schlendern können. Zufällig konnten wir bei einer Koi-Fütterung zuschauen, auch wenn das Highlight des Tages wohl die Teezeremonie in einem Pavillon in einer wunderschönen Ecke des Gartens war. Eine alte Dame, gekleidet im Kimono, brachte uns auf einem kleinen Tablett den aufgeschäumten Grüntee mit Manju, einem kleinen süßen Stückchen. Dank der Anleitung, die wir beim reinkommen bekommen hatten, konnten wir versuchen, durch alle Stufen dieser traditionellen Zeremonie zu gehen. Dazu gehörte auch, sich vor dem Tee zu verbeugen und ihm zu danken. Es war herrlich zu sehen, wie drei ältere Japanerinnen in das Teehaus kamen und sich setzten, wie wir es in Deutschland in einem Straßencafé tun würden.
Kyoto
Ohne Zweifel waren die Tage in Kyoto für uns beide bei Weitem der schönste Aufenthalt während unserer Reise. Was diese Stadt an kultureller Vielfalt und Schönheit bietet hat uns umgehauen. Man könnte wohl ganze Wochen dort verbringen und immer noch nicht alle Tempel, Schreine und Paläste gesehen haben. Mein Reisegefährte Arthur bestand darauf, dort eine sogenannte Geisha-Show anzuschauen, bei der verschiedene traditionelle Kunstformen aufgegriffen und vorgeführt werden. In unserem Fall waren das gleich sieben verschiedene: die traditionelle Teezeremonie, von Vorbereitung bis Verzehr und Genuss; die Kunst des Blumensteckens, bei dem verschiedene Zweige und Blüten minimalistisch, aber kunstvoll in Vasen arrangiert werden; Orchestermusik, wie sie früher an Adelshöfen gespielt wurde; japanisches Theater aus vergangenen Jahrhunderten; eine Vorführung japanischer Zithermusik; dem eigentlichen Geisha-Tanz; und einem aufwändigen Puppenspiel, bei dem drei schwarz gekleidete Spieler auf einer dunklen Bühne gemeinsam eine Puppe bewegen uns so eine Geschichte erzählen. Die Vorführung war wahnsinnig spannend, litt aber leider unter der Respektlosigkeit und Gleichgültigkeit vieler anwesenden Touristen, die sich nebenher unterhielten, Blitzfotos machten, minutenlang Video aufnahmen und ständig nach einem besseren Sitzplatz suchten. Danke, Massentourismus.
So haben wir in Kyoto dennoch zwei wunderbare Tage verbracht. Die ganze Zeit über war Regen angesagt, aber mit dem Wetter haben wir die ganze Reise über einfach Glück gehabt. So haben wir uns zum Beispiel gleich am ersten Morgen in Kyoto mit dem Bus auf den einstündigen Weg zum berühmten Kinkaku-ji – den goldenen Tempel – gemacht, bei dunklem Himmel und Regen. Der Regen wurde mit der Zeit weniger, aber der Himmel blieb bewölkt. In dem Moment, in dem wir ankamen und zu Fuß um die Ecke bogen, öffnete sich der Himmel und der in echtem Gold bedeckte Tempel erstrahlte nur so in vollem Glanz. Am Ende war der Tag dann so schön, dass wir beide mit einem leichten Sonnenbrand nach Hause kamen. Am nächsten Tag stand die Innenstadt auf dem Plan: Hauptbahnhof, Kaiserpalast (früher war Kyoto kaiserliche Hauptstadt Japans), und Nishiki Markt, in dem man überdacht ewig in eine Richtung läuft, vorbei an unzähligen Ständen, die alles Erdenkliche an Essen anbieten. Und einen kampagnenführenden Parlamentarier in Vorbereitung auf die kommende Wahl zum japanischen Oberhaus haben wir auch noch getroffen. Fazit: Kyoto ist für jeden Japanaufenthalt ein Muss – ich lasse einfach mal ein paar Bilder für sich sprechen.
Kyotos Vielfalt hat uns begeistert. Im Arashiyama Bambuswald haben wir uns Fahrräder ausgeliehen und sind durch Wald und Wiesen von Tempel zu Tempel gefahren. In der Altstadt haben wir uns einen ganzen Nachmittag lang nur durch kostenlose Proben in kleinen Kostläden durchgeschlagen (und nebenher mindestens genauso viel eingekauft – das Essen war wirklich herrlich). Und natürlich Tempel um Tempel besucht. Neu für uns war schon in Hiroshima das symbolische Säuberungsritual gewesen, das man durchläuft, bevor man einen Tempel oder Schrein betritt. An jedem Eingang findet man eine Art Trog, in den Wasser läuft und an dessen Rand Schöpflöffel liegen. (1) Man nimmt einen dieser Löffel mit der rechten Hand, lässt Wasser reinlaufen oder schöpft Wasser, und (2) wäscht damit seine linke Hand. Dann nimmt man den Löffel in die linke Hand und (3) wäscht die rechte Hand. Als nächstes wechselt man ihn wieder zur rechten Hand, lässt etwas Wasser in die linke Hand reinlaufen, und (4) spült damit seinen Mund aus. Das Wasser spuckt man aus (nicht in das Becken!) und legt den Schöpflöffel wieder umgekehrt an den Rand. Wieder was gelernt!
Mount Fuji
Nach Tagelangen Städtetrips war ein ganzer in der Natur verbrachter Tag eine willkommene Abwechslung sowie die Möglichkeit, noch eine ganz andere Seite Japans kennenzulernen. Von Kyoto aus reisten wir mal wieder mit dem Shinkansen zunächst nach Tokyo, da es von dort um einiges leichter ist, zum Fujisan zu kommen. Also haben wir uns gleich früh morgens von Tokyo Ueno Station aus erst mit dem Shinkansen, dann mit der Regionalbahn auf den Weg gemacht, und waren nach knapp drei Stunden in Fujinomiya, mehr oder weniger am Fuße des Vulkans.
Eigentlich hatten wir ursprünglich geplant, gleich zwei Tage für Mount Fuji freizuhalten, um bis zum Gipfel auf knapp 3.800 Meter zu wandern. Leider haben die verschiedenen Zwischenstationen und Berghütten nur zur offiziellen Wandersaison geöffnet – und diese hätte erst eine Woche nach unserem Aufenthalt begonnen. Also haben wir spontan umdisponiert und uns entschieden, bis zur ersten Station auf ca. 2.400 Metern zu fahren, um immerhin auf dem Berg gewesen zu sein. Leider wurde uns auch bei diesem Plan ein Strich durch die Rechnung gemacht: “Oh, Busse fahren am Wochenende leider nicht zur Station” – es war Samstag. Mit dem Taxi hätte die einfache Fahrt um die 90 Euro gekostet, und ein Auto konnten wir nicht mieten, da man als Deutscher oder Franzose auch mit internationalem Führerschein in Japan nicht fahren darf – ich hätte meinen Führerschein erst auf Japanisch übersetzen lassen müssen.
Also mussten wir wieder umplanen und sind so kurzerhand mit dem Bus zum Tanukisee gefahren, um ihn einmal zu umrunden und Mount Fuji sich dahinter erhebend zu sehen. Der Kontrast zur Stadt wurde gleich deutlich, als es hieß, in der gesamten Gegend gäbe es keinen Geldautomat (das Mittagessen fiel also aus, da man auch nicht mit Karte zahlen konnte); der Bus fuhr auch nur alle vier Stunden zurück zum Bahnhof – immerhin 16km vom See entfernt. Am Ende hatten wir Glück und konnten stundenlanges Warten vermeiden, als wir unser Glück per Anhalter versuchten und von einem super freundlichen älteren Herren mitgenommen wurden. Den einzigen englischen Satz, den er sagen konnte, war wohl “Mount Fuji”, aber trotzdem konnten wir uns irgendwie verständigen (note to self: in einem fremden Land immerhin lernen, wie man “mein Name ist” und “ich komme aus Deutschland” sagt) und wir wurden bis direkt vor den Bahnhofseingang gebracht.
Tokyo
Die größte Stadt der Welt (in der Metropolregion immerhin knapp 40 Millionen Einwohner) auf wenige Absätze eines Blogeintrags zu beschränken ist gar nicht so einfach. In anderthalb Tagen meine ich aber, von Tokyo einen guten Eindruck bekommen zu haben. Trotz ihrer schieren Größe ist sie sehr gepflegt, sauber und ordentlich – was man von vielen anderen Großstädten selbst in Europa nicht behaupten kann (ganz zu schweigen davon, dass man sich eine 40 Millionen Einwohner Stadt in Europa gar nicht vorstellen könnte). Außerdem war Tokyo für Arthur und mich auch das Ende der gemeinsamen Reise, da er von dort aus seinen endgültigen Heimflug zurück nach Europa gebucht hatte und ich erst am nächsten Tag zurück nach Seoul fliegen würde. Zum Abschiedsessen sozusagen haben wir es uns aber nicht nehmen lassen, direkt an Shibuya Crossing ein gigantisches und geiles Sushi-Festmahl zu genießen.
So war ich die letzten zwei Tage auf mich allein gestellt und habe die Stadt relativ ziellos nach Lust und Laune erkundet. Einige Stopps unterwegs waren der berühmte Tokyo Tower – unschwer erkennbar, da der Eiffelturm architektonische Hauptinspiration war, das Gebäude der Metropolregierung Tokyos, in dem man umsonst in den 44. Stock kommt und eine Wahnsinnsaussicht auf die Stadt hat, sowie der Kaiserpalast, in dem die Kaiserfamilie seit Ende des 2. Weltkriegs noch wohnt. Im Krieg war der alte Palast aus Holz bei der Brandbombardierung Tokyos durch die amerikanische Luftwaffe leider zerstört worden, und danach durch eine moderne Stahlbetonkonstruktion ersetzt.
Zufälligerweise war ich genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Zweimal am Tag werden Führungen durch das Palastgelände gegeben, zu denen man sich vor Ort noch anmelden kann. Fünf Minuten vor Beginn der Tour kam ich zu Fuß am Palast an und wurde gleich reingelassen. Der Andrang ist groß und normalerweise bildet sich auch schon sehr früh eine lange Schlange, da jeden Tag maximal 600 Leute auf das Gelände gelassen werden. Bedeutet also, dass pro Führung 300 Leute mitgenommen werden.
Der Kaiser hat sich während der Führung leider nicht zeigen lassen (was er manchmal wohl tatsächlich tut), aber der Gute hatte sicherlich Besseres zu tun. Den Haupteingang zum Palastkomplex bildet eine große Steinbrücke über den Wassergraben, die so etwas wie einen berühmten Ruf hat: Jeder neuen Botschafter, der nach Tokyo entsendet wird, wird mit Pferdekutsche oder Limousine vom Hauptbahnhof abgeholt und zum Palast gefahren, um dem Kaiser bei einer Audienz vorgestellt zu werden. Das Ganze ist jedes Mal ein Spektakel, und bis zur ersten Brücke über den Wassergraben kann man die Kutsche begleiten, ehe sie im Palastgelände verschwindet. Über die innere Brücke aber durften wir während der Führung laufen (in dem Moment habe ich gedacht: das nächste Mal, wenn ich über diese Brücke gehe, dann in Pferdekutsche auf dem Weg zum Kaiser – dream big sagt man, oder?)
Nikko
Um den letzten Tag mit gültigem Railpass auszunutzen bin ich spontan noch ins 150km entfernte Nikko gefahren, wo ich eine Tempelanlage, die Teil des UNESCO-Weltkulturerbes ist, besucht habe. An dem Tag hab ich zwei wichtige Erkenntnisse gemacht. Erstens, dass es zwar entspannt sein kann, alleine zu Reisen, aber nach einer gewissen Zeit doch langweilig wird, wenn man niemanden trifft und niemanden hat, mit dem man über die Erfahrungen des Tages reden kann. Und zweitens, dass es in Japan Doppeldecker-Schnellzüge gibt. Doppeldecker – Schnellzüge! Ich muss an dieser Stelle nochmal ausdrücklich an die Deutsche Bahn appellieren: GET WITH THE PROGRAM!
Sobald Arthur Japan verlassen hatte, wurde das Wetter quasi wie auf Kommando schlechter und der Himmel bewölkt. So musste ich ohne Sonnenschein durch das kleine verschlafene Städtchen Nikko laufen, bis ich zur Tempelanlage kam. Diese ist für ihr Zusammenspiel aus architektonischen Meisterwerken und unberührter Natur bekannt. Über einhundert religiöse Bauten sind auf dem seit Jahrhunderten als heilig geltenden Gelände verteilt. Glück im Unglück hatte ich, als zwar einer der größten Tempel der Anlage zu dem Zeitpunkt von einer riesigen Halle umbaut war, ich so aber sehen konnte, wie diese jahrhundertalten Holzbauten in mühevoller Arbeit restauriert werden.
Nikko und Tokyo waren also ein perfekter Abschluss für diese durch und durch fantastische Reise. Im ersten Moment ist man der Meinung, Japan sei wahnsinnig teuer – wovor ich auch schon oft gewarnt worden war – aber schnell stellt man fest, dass Essen, Wohnen, oder Reisen eigentlich nicht viel teurer ist als ein ähnlicher Urlaub in Deutschland oder Frankreich. Gerade aber, wenn man aus Korea kommt (was jetzt auch nicht dem “asiatischen” Preisniveau entspricht, wird mein Besuch aus Deutschland bestätigen können), wird der Preisanstieg auffällig. Ich denke, dass man als Europäer vielleicht auch einfach unterbewusst denkt, man sei ja in Asien unterwegs, weswegen auch alles automatisch viel günstiger sein muss, als Zuhause. Spätestens während seines Aufenthaltes wird dann aber offensichtlich, dass Japan die drittgrößte Wirtschaft der Welt ist und historisch auch das erste moderne industrialisierte Land außerhalb des “Westens” war. Selbst zu Ländern wie Korea lässt sich ein Unterschied feststellen, oder auch zwischen Seoul und Tokyo, um mal die Hauptstädte zu vergleichen.
Besonders auffällig wird dies, wenn man Perspektiven wechselt: Ich war aus Deutschland nach Seoul gekommen und war begeistert vom technologischen Entwicklungsstand der Stadt, den unglaublich höflichen und entgegenkommenden Menschen sowie der Sauberkeit und Ordnung. Eine deutsche Freundin, die auch zum ersten Mal in Seoul war, erzählte, wie entsetzt sie nach ihrer Ankunft gewesen sei über die Verhältnisse in Seoul, von den unhöflichen und uninteressierten Menschen, von Unordnung, Schmutz und Müll, und dass man merke, dass Korea noch nicht zur “ersten Welt” zähle. Niemand konnte ihre Reaktion nachvollziehen, auch nicht, als sie erzählte, dass sie nicht direkt aus Deutschland gekommen war, sondern das vorherige Semester in Tokyo verbracht hatte. Erst nach dieser Woche in Japan konnte ich verstehen, dass der Umzug nach Seoul für sie in gewisser Weise als ein “Abstieg” gesehen wurde. Das soll natürlich nicht heißen, dass Seoul unterentwickelt sei – ganz im Gegenteil. Trotzdem haben auch oft Professoren an der Soongsil Uni darauf bestanden, dass Korea “noch nicht ganz zur Gruppe der Industrienationen zähle”.
In einer Hinsicht hat mich Japan sehr überrascht. Von dem Land hatte ich immer das Bild (woher weiß ich gar nicht genau), das neben Technologie wie Warenautomaten für alles Mögliche oder dem Shinkansen-Netzwerk auch modernste Internettechnologie überall verbreitet sei – also WLAN Hotspots und Smartphones. Nach meinem Auslandsemester hat sich aber herausgestellt, dass nicht Japan dieses Land ist, sondern Korea! Flächendeckendes offenes WLAN in allen Städten, Cafés, Bars und Restaurants – sogar in den Ubahnen – und eine beispiellose Smartphonepenetration in allen Altersgruppen. In Japan hingegen ist es uns beiden sehr schwer gefallen, außerhalb des Hotels WLAN zu finden; auch hat man in den Zügen zum Beispiel noch sehr viele Klapphandys gesehen. Ein Herr wird mir besonders in Erinnerung bleiben, der in der Ubahn nicht auf einem Smartphone oder Tablet einen Film angeschaut hat, sondern auf einem mobilen DVD Spieler (ca. anno 2005). Andererseits hat sich mein japanischer Sitznachbar auf dem Rückflug nach Seoul köstlich darüber amüsiert, dass wir in Deutschland beim Bus- oder Ubahnfahren noch mit Bargeld Papiertickets kaufen.
Sehr auffällig war für uns auch der bemerkenswerte Individualismus der Japaner bezüglich Kleidungsstil und Aussehen. In Seoul hatten wir vor allem auf dem Campus eher den Eindruck, dass es einen groben Kleidungsstil gibt, an dem man sich zu orientieren hat. In Vorlesungen wurde dann bestätigt, dass es tatsächlich wenige oder nur sehr kleine Subkulturen gibt, was Ausdruck des Selbst angeht. Eher wird versucht, nicht zu sehr vom Durchschnitt abzuweichen. Da wir beide aus Korea nach Japan kamen, ist gerade dieser Unterschied sehr auffällig gewesen, und so haben wir den Eindruck bekommen, dass es in Japan viel weniger gesellschaftliche Konsequenzen gibt, wenn man sich anzieht, um seiner Persönlichkeit treu zu bleiben. Viel öfter haben wir auch Outfits gesehen, die in Deutschland wohl nur Kopfschütteln erzeugt hätten. Dazu sage ich: Weiter so, Japan!
Kapselhotels
Eine besonders spannende Erfahrung möchte ich zum Schluss nicht vergessen. Sowohl in Tokyo als auch in Kyoto haben wir in Kapselhotels übernachtet. Das Hotel in Kyoto war im Grunde wie ein Hostel mit Mehrbettzimmer, nur dass es keine Stockbetten waren, sondern pro Zimmer (geschlechtergetrennt) zwei mal fünf Kapseln, in die man seitlich einsteigen konnte. Alle Bäder während unserer Reise waren “japanese-style”, also Gemeinschaftsbäder. Entlang der Wand hängen auf Bauchhöhe kleine Spiegel und Duschköpfe; davor stehen Hocker – man duscht also im Sitzen. Duschgel, Shampoo und Lappen werden von Hotel bereitgestellt, genauso auch Föhn und Handtuch. Neben den Duschen gibt es noch mindestens ein großes Becken gefüllt mit 38 bis 42 Grad heißem Wasser – erst nach dem ersten Reinigen, also Duschen, darf man dort hinein steigen und entspannen.
In Tokyo war das Kapselkonzept etwas komplizierter und sehr durchdacht. Man kommt in das Hotel und muss gleich am Eingang seine Schuhe ausziehen, die man dann in ein kleines Schließfach schließt. An der Rezeption gibt man diesen Schlüssel ab und bekommt dafür das Hoteloutfit, bestehend aus Hose, Oberteil und Hausschuhen, sowie den Schlüssel zum eigentlichen Schließfach. Hinter der Rezeption findet man sein Schließfach, zieht sich um und sperrt alles ein, was man nicht zum Schlafen braucht. In den oberen Stockwerken kommt man dann zu den eigentlichen Schlafbereichen. Die Kapseln hier hatten allerdings ihre Öffnung auf der Fußseite, die man mit einem kleinen Rollo schließen konnte – der Raum kam mir also um einiges kleiner vor. Wer sich das ganze nicht ganz vorstellen kann, schaut am besten auf die Fotos:
Interessant war auch, als uns gesagt wurde, dass solche Kapselhotels in den Innenstädten viel von Geschäftsleuten benutzt werden, die sich nach einem langen Tag in der Arbeit oder sehr spätem Feierabend nicht mehr auf den womöglich langen Weg mit den Öffentlichen nach Hause machen wollen. Mit 20 Euro pro Nacht sind diese Hotels also eine vergleichsweise günstige Alternative. Morgens kann man sich an einem kleinen Kiosk im Hotel eine neue Krawatte oder ein neues Hemd kaufen, um nicht im Outfit von gestern wieder im Büro zu erscheinen. Ob sich so ein Konzept auch in Deutschland durchsetzen würde?
Wie ich gleich zu Beginn geschrieben habe, hat Japan sämtliche Erwartungen übertroffen. Die Höflichkeit und Freundlichkeit der Menschen, die Schönheit der Natur und die Ordnung der Städte, alle mit ihrem eigenen besonderen Charakter. Und ich bin längst nicht dazu gekommen, in diesem Eintrag alle Erlebnisse und Erfahrungen zu erwähnen. Japan hat so viel zu bieten! Und wir hatten das Glück, viel davon zu sehen (nicht nur sind wir knapp 2.000km Zug gefahren, sondern in den verschiedenen Städten insgesamt knapp 200km zu Fuß gegangen). Wenn es nicht von Deutschland aus so weit wäre, würde ich jederzeit zurückgehen, um mehr zu sehen. Diese eine Woche war ein wundervoller Abschluss meines Auslandsemesters in Korea – nach nur drei Tagen wieder in Seoul ging es nämlich endgültig zurück in die europäische Heimat. Es wird nicht das letzte Mal in dieser Ecke des Globus gewesen sein! In diesem Sinne: ありがとうございます, arigatou gozaimasu, und bis nächstes Mal!
2 thoughts on “Im Land der aufgehenden Sonne”