Willkommen im COVID-Kolumbien

Der Effekt der Maßnahmen ist beeindruckend und schauerlich zugleich: Bei meinen raren Besorgungsgängen präsentiert die 8-Millionenstadt Bogotá sich mir im Ausnahmezustand: beinahe menschenleer, die sonst zu jeder Tageszeit belebten Straßen praktisch ausgestorben, nur vereinzelte mundschutzbedeckte Gesichter hinter den Fenstern der sonst überfüllten Kleinbusse. Bloß vor Lebensmittelgeschäften warten Menschen – in 2 Metern Abstand zu einander – bis sie eintreten dürfen.

“Diese Isolation, die das Beste für uns alle sucht, ist gerade so, dass wir weiter Leben retten können…”,   verkündet der kolumbianische Präsident Iván Duque Márquez am 06. April 2020 die Verlängerung des nationalen Quarantänemaßnahmen um weitere 2 Wochen. Schon seit 25. März 2020 befindet sich das Land im Aislamiento Preventivo Obligatorio (der “verpflichtenden vorsorglichen Isolation”), wie die allgemeine Ausganssperre hier tituliert wird, Bogotá sogar noch um ein langes Wochenende länger. Das Haus verlassen dürfen die Einwohner nur noch für lebensnotwendige Besorungen, Bank- und Arbeitswege.

 

Lockdown – eine globale Lösung?

Auch wenn das Szenario auf den Straßen aus einem politisch bewegten Südamerika andere emotionale Bilder hervorrufen mag, so gelten hier im Wesentlichen die gleichen Maßnahmen wie in großen Teilen Europas zu Anfang der Pandemie auch. Sowohl Verlängerung als auch die Gestaltung der Ausgangssperre ähneln sehr stark den Modellen in Spanien und Frankreich. Zufall oder Plan sei dahingestellt, als dringendere Frage stellt sich derzeit: Ist es möglich, die Coronakrise landesunabhängig mit den gleichen Maßnahmen zu bewältigen? Welche Rolle spielen die lokalen Gegebenheiten für den Erfolg und die Nebenwirkungen einer nationalen Ausgangssperre?

Hier in Kolumbien unterliegt das Krisenmanagement der Regierung heftiger Kritik. Die als reine Kopie des europäischen Vorgehens empfundenen Maßnahmen scheint hierzulande weder vertret- noch durchsetzbar. Meine Professoren an der Politikfakultät der Universidad Nacional prognostizieren innerhalb kürzester Zeit unkontrollierbare soziale Folgen, Ungleichberechtigung und Armut. Es wird viel diskutiert.

Tatsächlich kann ich dieser Kritik, den kolumbianischen Kontext in der Konzipierung der Maßnahen zu missachten, schon nach zwei Monaten Auslandsaufenthalt nur zustimmen. Die kolumbianische Lebensrealität ist in vielen Aspekten eine andere als die europäische, mit in- und außerhalb von Pandemiezeiten anderen (Un-)Sicherheiten, Möglichkeiten, Bedürfnissen und Grundvoraussetzungen. Dass die gleichen Maßnahmen deshalb nicht äquivalente Auswirkungen haben, zeigt sich schon in den ersten Wochen des Aislamiento in meinem Lebensumfeld:

 

Arbeite wer kann…

Obwohl berufliche Tätigkeiten von der allgemeinen Ausgangssperre ausgenommen sind, geht mit dem Beginn des Aislamiento keiner meiner Mitbewohner mehr wie gewohnt arbeiten. Vielerorts müssen die Arbeitsbedingungen aufgrund von Hygienevorschriften und Umsatzeinbrüchen angepasst werden. Dazu entstehen verschiedenste Modelle:

 

…im Homeoffice

Die in Mitteleuropa beliebte Variante des Homeoffice ist auch hier in Bogotá, zumindest soweit möglich, relativ üblich. “Soweit möglich” ist allerdings der springende Punkt, denn etwa ein Drittel der Bogotaner und circa 20 mio der 50 mio Einwohner Kolumbiens haben zuhause keinen Internetanschluss. Wenn man bedenkt, dass sich in vielen Haushalten mehrere studierende und arbeitende Familienmitglieder einen PC teilen und die Datenübertragungsrate der üblichen günstigeren Tarife für Videokonferenzen nicht ausreicht, zeichnet sich ein noch realistischeres Bild der Vernetzungslage. Die Virtualisierung führt das schon allgegenwärtige Problem der ungleichen Chancen in Kolumbien schlagartig in neue Extreme.

 

…im Team

Auch das Privileg unserer weitestgehend stabilen Internetverbindung schützt meine Mitbewohner nicht vor weiteren Hürden im Arbeitsleben. “Ist es legal, dass mein Arbeitgeber mir nur noch 75% des Gehalts zahlen will?”, fragt ein Mitbewohner zum ersten Monatsende der Quarantäne. “Bei mir verlief das auf freiwilliger Basis, damit sie niemanden gehen lassen müssen”, folgt prompt die Antwort einer anderen. Die Situation illustriert für mich zwei Aspekte der kolumbianischen Lebensrealität: Ja, es kann, mit Zustimmung des Angestellten, legal gemacht werden. Aber nein, das ist keine über die Angestellten hinweg dekretierte Entscheidung seitens des Arbeitgebers.

Als Kontext möchte ich hier zwei beobachtete Qualitäten der Kultur in Kolumbien erwähnen: Solidarität und die Betrachtung von Personen als ganzheitliche Menschen. Da vor allem in kleineren Unternehmen das Verhältnis zwischen Angestellten und Vorgesetzten oft ein persönliches, manchmal sogar freundschaftliches ist, eröffnen sich dort wo formelle Regelungen weniger ausgeprägt sind gewisse Spielräume, gemeinsam Lösungen zu finden. Dabei wird die persönliche Lebenssituation, über das reine Dienstverhältnis hinaus, miteinbezogen und die Angestellten auch als Familienmütter oder -väter berücksichtigt. So formen persönliche Beziehungen und Gruppendynamiken oft ein Sicherheitsnetz, wo das staatliche Löcher aufweist. Dass persönliche Bindung oft wichtiger ist als formelle zeigt sich auch im Fall eines weiteren Mitbewohners, dem zu Beginn der Quarantäne beide Arbeitsverträge in größeren Unternehmen fristlos und auf unbestimmte Zeit ohne Bezahlung suspendiert werden. Das ist wohl die andere Seite der Medaille.

 

…oder nicht

In der momentanen Situation zu behaupten, dass sich Sozialgruppen finanziell selbst regulieren können, wäre zu hoch gegriffen. Die noch junge, erst 2016 mit dem Friedensvertrag entstandene sozialpolitische Ordnung Kolumbiens im Posacuerdo und der Friedenskonstruktion ist derzeit von noch bestehenden oder neu ausgelösten Gesundheits-, Wirtschafts-, Arbeits-, Wohnungs- und Sozialkrisen betroffen und nicht auf die pandemiebedingten Umsatzeinbrüche vorbereitet.

Welche Auswirkungen die vorsorgliche Einschränkung des Dienstleistungssektors in einer lateinamerikanischen Großstadt wie Bogotá auslöst, ist wohl erst halbwegs begreifbar, wenn man die Abläufe des Stadtlebens außerhalb der Pandemiezeiten erlebt hat: Da menschliche Arbeitskraft günstig ist, werden unzählige Tätigkeiten, die in Mitteleuropa automatisiert oder durch Wegwerfware ersetzt sind, hier von Menschen erledigt. So entstehen etwa zum Wiederaufladen von Bustickets oder SIM-Karten, zur Diebstahlsicherung an Supermarkteingängen und bei der Reparatur von Kleidungsstücken wertvolle Arbeitsplätze, die nun leider pandemiebedingt in Bedrängnis kommen.

Viele Menschen verdienen sich Tag für Tag ihren Lebensunterhalt mit Ständchen am Gehsteig, wo sie frisch gepresste Säfte, Avocados, Arepas (käsegefüllte Maisfladen) und Obst verkaufen, was derzeit nicht möglich ist. Besonders hart trifft das Ausbleiben von Passanten auch die Menschen, die auf den Straßen um Geld bitten oder in der Transmilenio (ubahnähnliches Bussystem) Kleinigkeiten verkaufen, um irgendwie dem Hunger zu entkommen. Die Abwesenheit all dieser Menschen auf den Straßen der Pandemiezeiten ist geradezu symbolisch für die sichtbare Unsichtbarkeit der Bedrohung, sowohl sanitärer als auch sozialer Art.

 

Pandemie bis zum letzten Peso

Die beschriebenen Jobsituationen von Homeoffice, Kurzarbeit bis zu plötzlicher Arbeitslosigkeit bildet nur einen Teil des Geflechts. Sie unterscheiden sich grundsätzlich nicht von jenen in Mitteleuropa. Allerdings nehmen die finanziellen Herausforderungen im Kontext wohl andere Dimensionen sozialer Ungleichheit an. Denn neben Internetverbindung und Arbeitsrechten spielt die Vermögenssituation eine entscheidende Rolle: Größere Rücklagen sind in Kolumbien aufgrund von Mentalität und Einkommenshöhe kein Regelfall.

Bei den meisten meiner Mitbewohnern reichen sie etwa für 2 Monate, wobei ich mich hier schon in wohlhabenderen Kreisen junger, alleinstehender Bogotaner bewege. Für Familien, Arbeiter, andere Viertel Bogotás und das Land Kolumbien sieht die Lage deutlich anders aus, wie sich im finanziellen Hilferuf einer Bekannten schon in der ersten Woche des Aislamiento zeigt. Auch die roten Fahnen an Häusern, Zeichen dass hier Lebensmittel gebraucht werden, zeigen die Not. Die etwa 40-50% im informellen Sektor Arbeitenden können auch nicht auf staatliche Hilfen hoffen.

Autorin: Inge Stipsitz

Stand 9. April 2020

 

*Dieser Beitrag ist im Rahmen des Kurses Krisenmanagement in der globalen Stars-Cov2 / Covid19 Krise entstanden

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