Zunehmend verstehe ich die sozialen Medien unserer Welt weniger. Über Snapchat und Instagram erhalte ich durch mein persönliches Umfeld noch ausreichend Informationen. TikTok ist nun die erste Plattform ihrer Größenordnung, von deren Wirkungsfeld ich ausgeschlossen bin. Die App hat Hochschulen bisher nur partiell erreichen können.
Die App ist in über 150 Ländern verfügbar und wurde weltweit über zwei Milliarden Mal heruntergeladen. TikTok und „Douyin“, das chinesische Pendant (TikTok-Inhalte werden dort nicht erlaubt) erreichen ein beeindruckendes Engagement: 52 Minuten pro Tag verbringen durchschnittliche Nutzerinnen und Nutzer mit der App, von denen 90% sie mehrmals täglich öffnen.
Der präpandemische Aufstieg TikToks wurde durch die letzten Monate noch verstärkt: Der Anstieg in der täglichen Nutzung ist auf einer Höhe mit denen von Netflix und YouTube: Zwischen Januar und März diesen Jahres erhöhte sich der Traffic pro Tag um 15,4%. Im ersten Quartal 2020 generierte TikTok die meisten Downloads aller Zeiten für einen solchen Zeitraum. Der positive Effekt der Pandemie auf den Tech-Sektor macht sich auch hier bemerkbar.
Die Ankündigung Donald Trumps, TikTok sowie die weniger populäre App „WeChat“ in den USA zu verbieten wenn sie nicht verkauft wird, bildet einen radikalen Bruch dieser Erfolgsgeschichte. Davon abgesehen passt die Maßnahme aber gut in den aktuell propagierten antichinesischen Kurs Trumps. Denn in Kombination mit der Covid-19 Pandemie erschüttern Washington auch die fast historisch schlechten Beziehungen zwischen den USA und China.
Die Ursache dieser Kampagne ist unklar, einige logische Schlüsse lassen sich allerdings ziehen: Selbst wenn die Dateneingriffe nicht positiv zu bewerten sind, unterscheidet sich TikTok nicht von etablierteren Apps wie LinkedIn, Reddit oder BBC News. Es scheint also um China zu gehen – darum, dass diese unheimliche Menge an Daten in der Hand eines chinesischen Unternehmens als gefährlich angesehen wird. Dafür spricht auch, dass sich der Präsident für eine Akquisition von Microsoft ausspricht, die TikTok in den USA, Kanada, Neuseeland und Australien betreffen würde.
Donald Trumps Motiv ist leider auch nicht, das Leid der Hongkonger oder Uiguren zu mindern, deren systematische Inhaftierung respektive demographischen Genozid er um der Handelsgespräche Willen ignorierte oder sogar befürwortete.
Gleichzeitig sinken aktuell aber auch Trumps Chancen auf Wiederwahl zum Präsidenten. In den meisten Swing States und bei nationalen Erhebungen liegt er deutlich hinter Joe Biden. Seine üblichen Themen Migration, Political Correctness und die (vor der Pandemie) Wirtschaft im Aufschwung ziehen nicht mehr. Um vom desaströsen Krisenmanagement der Pandemie abzulenken, wurde die aggressive Konfrontation Chinas als systemischen Rivalen ebenso wie als Ursprung des Coronavirus zum Hauptziel.
Ob auch eine Rolle spielt, dass Teenager auf TikTok angeblich mitverantwortlich für die peinliche Rally in Tulsa waren, lässt sich nur spekulieren.
Sicherheitspolitische Bedenken sind allerdings nicht aus der Luft gegriffen:
Der Guardian berichtete kürzlich, dass die App politisch sensible Inhalte wie die tibetische Unabhängigkeit oder die Tiananmen Proteste zensieren würde. Darüber hinaus wurde im November 2019 ein Video, das als „Makeup Tutorial“ getarnt war, gelöscht und die Erstellerin für einen Monat gesperrt. In diesem hatte sie für mehr Aufmerksamkeit für das Schicksal der Uiguren geworben. TikTok, nachdem es den Vorfall erst geleugnet hatte, öffnete den Account einige Zeit später wieder und erklärte einen „menschlichen Moderationsfehler“ für verantwortlich.
Weiter kann das nationale Sicherheitsgesetz in China jede Person oder Organisation zu Hilfe, Assistenz und Kooperation mit den staatlichen Geheimdiensten zwingen. Hinter TikTok steht nämlich mit „ByteDance“ eine Firma, die wie alle chinesischen Unternehmen vom Wohlwollen der kommunistischen Partei abhängig ist.
TikTok dagegen versucht alles, um die Verbindung zu ByteDance öffentlich nicht zu thematisieren und sein Image zu wahren. Beispielsweise veröffentlichte TikTok vor Kurzem mehr Informationen als je zuvor über den Algorithmus der App. Dieser spielt vielleicht die größte Rolle im Wettbewerbsvorteil des Mediums.
Darüber hinaus wurde Kevin Mayer, ein ehemaliger Senior Executive bei Disney, im Mai 2020 COO von ByteDance und CEO von TikTok. Gemeinsam mit weiteren US-amerikanischen Executives soll er das Image von TikTok stärken. Vanessa Papas ist eine dieser Executives und betonte kürzlich, dass allein das US-Team von TikTok Entscheidungen treffen würde. Zusätzlich erklärte das Unternehmen, dass ByteDance seinen Sitz auf den Cayman Islands habe und daher nicht chinesischem Recht verpflichtet sei. All diese Beispiele zeigen auf, wie wichtig TikTok ist, nicht als chinesisches Unternehmen gebrandmarkt zu werden.
Dagegen haben allerdings frühere Mitarbeitende erklärt, dass die Moderierenden in China das letzte Wort über markierte Inhalte hätten. Auch die bereits erläuterten Beispiele zeugen nicht von einer apolitischen Haltung im Unternehmen.
Solche Vorwürfe sind neben geopolitischer Konkurrenz auch der Grund dafür, dass Indien die App vor einigen Wochen verbot. Neben mehreren Regierungsinstitutionen in den USA hatte auch Amazon seinen Mitarbeitenden verboten, die App herunterzuladen. Amazon bezeichnete diese Anweisung aber später als schon revidierten Fehler.
Donald Trump ist also nicht alleine in seiner Kritik gegenüber TikTok und WeChat. Sowohl Republikaner als auch Demokraten teilen sicherheitspolitische Bedenken. Dass Tom Cotton und Chuck Schumer einmal gemeinsam einen Brief schreiben würden, hätte wohl kaum jemand für möglich gehalten. Gleichzeitig zeigt es aber die Ernsthaftigkeit der US-Amerikaner.
Vor kurzem erst fand die Anhörung der vier wichtigsten Technologieunternehmen der USA wegen Monopolgefahr statt. Dass nun die erste, ernst zu nehmende ausländische Konkurrenz ausgeschlossen wird, hinterlässt einen entsprechend faden Beigeschmack.
Dennoch finde ich es wichtig, sich der Bedrohung bewusst zu werden, die von einem expansiven antidemokratischen Staat wie China auf allen Ebenen ausgeht. Ein Land, in dem keine westlichen Medien erlaubt sind und weitreichende Kontrolle über die heimischen Unternehmen hat, sollte man mindestens skeptisch hinterfragen. Und im Fall TikTok sollten die aufgezählten Fälle ausreichend Grund sein, die Maßnahmen zu rechtfertigen – selbst, wenn das meine Chancen noch weiter verringert, Teil der TikTok-Community zu werden.
In China wurde die Entwicklung als US-amerikanisches „Mobbing“ bezeichnet, das sich nicht an marktwirtschaftliche Prinzipien wie Offenheit, Nichtdiskriminierung und Transparenz halten würden. Eine interessante Aussage, handelt China mit der getrennten Douyin-App doch mindestens genauso isolationistisch.
Deutschland dagegen prüft bisher nur den Verzicht in offiziellen Institutionen. Jedoch sollte man sicher sein, dass Huawei nicht das letzte chinesische Unternehmen bleiben wird, das in der Diskussion um ein „Decoupling“ leidet.
Autor: Janek Tiemann
*Dieser Beitrag ist im Rahmen des Kurses Krisenmanagement in der globalen Sars-Cov2 / Covid19 Krise entstanden