Die Covid-19 Pandemie schränkt seit einem knappen halben Jahr das tägliche öffentliche Leben ein. Für die Mehrzahl der Bevölkerung ist das Virus ausreichend Grund, um sich an Beschränkungen wie das Tragen des Mund-Nasen-Schutzes, das Abstandhalten oder die Verschiebung von Treffen nach draußen zu gewöhnen. Ebendies ist in den letzten Monaten geschehen: Gewohnheit ist eingetreten. Ellenbogen werden zur Begrüßung gezückt, die Maske nicht mehr häufiger als das Handy zu Hause vergessen, 1,5 Meter und 20 Sekunden sind gut schätzbare Variablen geworden.
Was jedoch, wenn Menschen die Möglichkeit nicht hätten Abstand zu halten oder ihre Hände zu waschen?
Denn während sich in Deutschland und anderen Ländern, Menschen über die Einschränkungen wie das Masketragen beschweren, gibt es andernorts Menschen, die froh darüber wären, sich und ihre Familien mit derlei Maßnahmen schützen zu können.
Agenda 2030: Leave No One Behind
#leavenoonebehind ist das Hashtag der Stunde in den sozialen Medien. Niemanden zurückzulassen, das ist festgelegt in derAgenda 2030 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Dieses Hashtag ist nicht nur eine Modeerscheinung von Tweets und Instagram-Posts, es ist ein offizieller Grundsatz der UN.
Eigentlich bezeichnet Leave No One Behind den Grundsatz für Gleichberechtigung und gegen Armut auf der Welt einzutreten. In den vergangenen Monaten ist das Hashtag und der Schriftzug auf Bannern häufig im Zusammenhang mit Camp Moria auf Lesbos aufgetaucht. Es soll daran erinnern, dass die genannten Grundsätze der Agenda 2030 nicht eingehalten werden, dass doch Menschen zurückgelassen werden in den griechischen Lagern.
Räumung oder Lockdown als Schutz vor der Pandemie?
Als die Covid-19 Pandemie nach Europa kam, warnten von allen Seiten Wissenschaftler:innen, Journalist:innen und Menschenrechtler:innen vor der Ankunft des Virus im Camp. Ein Ausbruch im Camp wäre fatal und nicht kontrollierbar. Es entstand schnell ein Konsens, dass die Räumung des Lagers von Nöten wäre, um Menschenleben effektiv schützen zu können. Vorschläge, wie die Unterbringung Geflohener in Hotels, die pandemie-bedingt ihren Betrieb ohnehin nicht fortführen könnten. Doch es passierte nichts dergleichen.
Die einzig durchgesetzte Strategie, um die Menschen in Moria zu schützen, war die Abriegelung des Camps nach außen. Zwar wurde die Versorgung mit Lebensmitteln aufrechterhalten, doch die medizinische Versorgung wurde gekappt. Die prekären Umstände, in denen zuhauf traumatisierte und gesundheitlich vorbelastete Menschen leben, sind unzumutbarer denn je.
Camp Moria auf der griechischen Insel Lesbos war ursprünglich ausgelegt für knapp 3000 Menschen, nun leben dort über 19 000 Geflohene auf engstem Raum. Von ihnen sind etwa 6500 unter 12 und insgesamt über 1100 unbegleitete Kinder und Jugendliche. Alle Kinder und Jugendliche auf der Flucht verfügen in der Theorie über die 1989 in der UN-Kinderrechtskonvention festgelegten Kinderrechte. Doch diese können in Moria nicht eingehalten werden, da die Ressourcen für medizinischen – auch psychologischen – und rechtlichen Beistand, sowie Bildung nicht bestehen. Des Weiteren gibt es zu wenige Vormünder, die unbegleitete Kinder und Jugendliche im Asylverfahren rechtlich vertreten müssen.
Der Lockdown des Camps ab März mag sinnvoll erscheinen unter dem Gesichtspunkt, dass die Ausbreitung des Virus vor Ort unbedingt verhindert werden musste. Die Einschränkungen beliefen sich nicht nur auf eine Ausgangssperre, die rigoros von der griechischen Polizei kontrolliert wurde, sondern verbaten auch vielen NGOs, Freiwilligen und sogar Ärzt:innen das Lager zu betreten. Die Behandlung Kranker wurde nicht fortgesetzt und die Menschen waren gefangen in einem Lager, in dem fließendes Wasser und Strom keine Gegebenheit waren.
Öffnung für den Tourismus – Ausgangssperre für Campbewohner:innen
Während Griechenland die Ausgangsbeschränkungen für seine Einwohner:innen wieder aufhob und die Grenzen für den Tourismus öffnete, besteht der Lockdown für Camp Moria unveränderlich.
Ärzte ohne Grenzen fordern seit einiger Zeit die Verlegung Kranker und Angehöriger der Risikogruppe, sowie schwerkranker Kinder aufs Festland. Zudem gab es bereits vor der Pandemie gehäuft Fälle von Selbstverletzung, Suizidgedanken und suizidaler Handlungen, vor allem auch unter Kindern. Die zusätzliche Erschwerung der Lebensbedingung durch den Lockdown führe zu einer drastischen Verschlechterung der psychischen Gesundheit und Ärzte ohne Grenzen bezeichneten in einem Statement an Angela Merkel die Bedingungen im Camp als „zynische Abschreckungsstrategie“ von Seiten der EU.
Ärzte Ohne Grenzen hatten zudem im März ein Corona-Zentrum auf Lesbos eröffnet, das im Juli durch eine Klage der örtlichen Behörden zur Schließung gezwungen wurde. Das Isolationszentrum hätte gegen Auflagen der Stadtplanungsverordnung verstoßen.
Die EU versagt beim Schutz besonders Verletzlicher
All diese Umstände sind erschreckend, mehr noch unter der Betrachtung, dass sie sich auf dem Boden der Friedensnobelpreisträgerin Europäische Union abspielen. Dass das Covid-19-freie Camp Moria weiterhin von der Außenwelt isoliert bleibt, Tourist:innen die Inseln jedoch wieder bereisen dürfen und damit eine höhere Gefahr der Virusausbreitung bereithalten, ist ausgesprochen diskriminierend und führt zu einer Klasseneinteilung. In die, die Geld bringen und die, die unerwünscht sind und deren Menschenrechte ohnehin nicht mehr geachtet werden.
Die Europäische Union sollte alle Mittel zur Verfügung stellen, ausreichend Sanitäranlagen und mindestens eine Grundversorgung mit Wasser zu gewährleisten. Doch scheint mittlerweile die schrittweise Räumung des Camps die einzig angemessene Möglichkeit für die EU, zu beweisen, dass sie die UN-Kinderrechtskonvention und die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung achtet.
Autorin: Lina Loth
*Dieser Beitrag ist im Rahmen des Kurses Krisenmanagement in der globalen Sars-Cov2 / Covid19 Krise entstanden