Mist. Ich ärgere mich gerade so richtig. Marokko wirkt auf viele wie ein Paradies mit mehreren Tausend Kilometern Strand, orientalischem Flair und bezauberndem Abenteuerprogramm. Viele machen in Marokko Urlaub, genießen das angeblich freieste und offenste Land der Arabischen Welt, in dem man „noch Urlaub machen kann“. Und nicht wenige verlieben sich in dieses wunderschöne Land.
Für mich ist Marokko im Januar 2016 jedoch viel zu schnell Heimat geworden. Heimat, also Wohlfühlen und Zurechtkommen. Heimat, aber auch Entzauberung, Alltag und Normalität. Uni, Praktikum, Einkaufen. Carrefour an der Ecke; Tante-Emma-Laden gegenüber; hektisch durch die Medina, um noch schnell etwas Obst zu kaufen. Sogar die besonderen Türen, die freundlichen Blicke, die Schönheit der Stadt habe ich bald in Rabat gar nicht mehr wahrgenommen. Die Augen habe ich nicht mehr gehoben, den Blick gesenkt, um keinem Mann falsche Signale zu geben und noch öfter angesprochen zu werden als dies ohnehin schon der Fall ist. Und war abends hundemüde, nachdem ich in vollgepackter Tram die Stunde Reise hinter mir hatte, um von einem Stadtende zum anderen zu kommen.
Und jetzt ärgere ich mich gerade so richtig. Ich ärgere mich, weil ich fühle, dass ich in Marokko etwas verpasst habe. Dass ich die Schönheit nicht mehr gesehen habe. Dass ich dem Wunderbaren um mich herum mehr Platz hätte geben sollen. Dass ich noch mehr hätte reisen, noch mehr genießen, noch mehr hätte wertschätzen sollen.
Dabei sitze ich gerade in Tunesien, in der Hauptstadt, in einem der schönsten Viertel der Stadt. Genieße hier ebenso ein schönes Leben wie in Marokko. Lerne tolle Menschen kennen, wirke auf andere wie im Urlaub und lasse mich mitreißen. Habe hier genau wieder die Chance, mit meiner Umgebung in direktesten Kontakt zu treten. Laufe wieder mit gesenktem Blick? Verliere mich wieder im Alltag? Bin blind für die Schönheit, die mich umgibt?
Fakt ist: Vier Monate, nach dem das soziale Leben in Marokko aufgehört hat, holt mich jetzt die Retrospektive ein. Wirft mich mit voller Wucht zurück und zieht mich in ihren Bann. Sie spiegelt, verklärt, beschönt und überwertet. Sie setzt alles in ein anderes Licht. Zieht einen Filter über das Foto, das danach im Rohformat nie wieder schön aussehen wird. Lässt mich plötzlich Marokko so sehen, wie ihr es seht! Nicht mehr als Alltag und aktuelle Wohnstätte um mich herum, sondern als ein wunderschönes Land mit Palmen, Strand, Verzierungen, Motiven.
Plötzlich kehren die Farben zurück. Der einzigartige, ruhige Stillstand in der Villa in Hay Riad, in der ich zwar einen leeren Pool, aber kein Social Life hatte. Die warme, dynamische WG mit Matteo und Giulia im Hay Hassan, in der ich zwar keine Wand, aber dafür Social Life zur Genüge hatte. Und letztlich die lebendige, beste Wohnung im Stadtzentrum mit Salvatore und Sarah in die ich jederzeit und jede einzelne Sekunde augenblicklich zurückkehren würde. Was ein Glück! Was eine geniale Zeit! Wie wunderschön! Wie unglaublich bereichernd!
Warte auf die Retrospektive. Lass sie sich mitreißen und genieße die verschwommene Klarheit, die sie bringt. Genieß den Überblick, den du bekommst und genieß das warme Gefühl ums Herz wenn du plötzlich begreifst, dass sich doch alles gelohnt hat. Und dass alles genauso war wie es sein sollte. In allen Phasen, Etappen, Übergängen und Zusammenhängen. Wenn du merkst, dass es genau das ist, was wir auf Reisen suchen. Alltag zu haben und einkaufen zu gehen, aber dennoch einem Land, einem Volk, einem Meer an Lebensrealitäten so nahe zu kommen.