Ich muss zugeben, dass ich für diesen Eintrag verzweifelt nach einer Hunger Games Analogie gesucht habe, weil mich dieses Thema in letzter Zeit einige Male daran erinnert hat. Nicht so sehr natürlich an die eigentlichen Spiele der Reihe, in denen aus allen Distrikten des fiktiven Landes Panem jährlich ein Junge und ein Mädchen in die Hauptstadt geschickt werden, um in den Hunger Games gegeneinander anzutreten und zu kämpfen, bis ein Gewinner übrig bleibt. Sondern vielmehr das extreme Metropole-Peripherie-Gefälle, dass wie in Panem und besonders hier in Mexiko auffällt.
Auch nach langem Suchen aber habe ich keinen wirklichen Vergleich gefunden, und somit gebe ich mich mit einem Kopfnicken an das Märchen der Stadtmaus und Landmaus zufrieden. Mexiko mit einem fiktiven dystopischen Staat der entfernten Zukunft zu vergleichen liegt jetzt vielleicht auch nicht direkt auf der Hand.
Zurück also zum Phänomen des Metropole-Peripherie-Gefälles (danke Erdkunde in der Oberstufe), oder auch Zentrum-Peripherie-Modell genannt: „Allen Maßstabsebenen gemein ist die Tatsache, dass durch die wechselseitige Abhängigkeit von Zentrum und Peripherie die Entwicklung des Zentrums begünstigt und die der Peripherie verhindert oder zumindest verzögert wird“ (Eine nette Definition, aber hier soll es nicht in erster Linie um wirtschaftliche Entwicklung gehen, auch wenn dies wohl auch in diesem Kontext eine Rolle spielt). Das Zentrum ist in Mexiko unschwer erkennbar die Hauptstadt, während aus mexikanischer Perspektive selbst Industrieregionen und andere Millionenstädte zur ländlichen Peripherie gezählt werden.
Aus Deutschland kommend habe ich dieses Konzept, ja fast die mexikanische Besessenheit damit, nicht auf anhieb verstanden. Wie kann man Millionenstädte nur als Provinz einstufen? Eine mexikanische Freundin aus Léon (zwei Millionen Einwohner) erzählte, sie und ihre Geschwister würden von ihren Cousins aus Mexiko Stadt „primas del campo“ genannt – die Cousinen vom Land. Sogar ein Freund aus Monterrey – einer Stadt, die mit ihren vier Millionen Einwohnern größer ist als Berlin – meinte einmal, er fühle sich wie in der Provinz und freue sich, bald wieder endlich in Mexiko Stadt zu sein.
Am offensichtlichsten aber wurde das Ganze immer wieder in meiner „Heimatstadt“ Aguascalientes, die mit einer Bevölkerung von fast 800.000 Menschen wiederholt von Mexikanern als Dorf oder ruhige, schläfrige Provinzstadt bezeichnet wurde. „Wow, ihr habt sogar einen internationalen Flughafen!“ (obgleich mit einer Wartehalle und drei Gates direkt am Rollfeld), hieß es schon einige Male. In Mexiko Stadt habe ich auch schon Blicke bekommen, die wohl sagen wollen, „mein Beileid“ oder „aber wieso?“, wenn ich erzähle, wo ich in Mexiko wohne. Zunächst habe ich so etwas eher als arrogante Hauptstadtansicht weggesteckt. Vielleicht auch, weil einige dieser Leute aus einer eher höheren gesellschaftlichen Schicht stammten. Zwei aufklärende Gespräche aber, eines davon bei mir zu Hause in Aguascalientes, haben schließlich etwas Licht ins Dunkle gebracht.
Natürlich wissen diese Mexikaner, dass Monterrey, Guadalajara (die zweitgrößte Stadt des Landes) oder auch Aguascalientes keine kleinen Städte sind, und rein von der Bevölkerung her jeweils mit europäischen Großstädten wie Madrid, St. Petersburg oder Frankfurt auf einer Höhe stehen. Ausschlaggebend ist in diesen Fällen allerdings nicht die Größe einer Stadt oder die Anzahl der Menschen, sondern die Art der Menschen. Mexiko Stadt ist nicht nur das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum des Landes und größte Metropole der westlichen Halbkugel, sondern vor allem eine Stadt mit vielen Möglichkeiten und einer liberalen, offenen, kosmopolitischen und toleranten Bevölkerung – weit über dem Durchschnitt des Landes. Genauso wie in Ländern wie den USA oder auch Deutschland fällt also der Unterschied zwischen Stadt und Land auf, was gesellschaftliche Einstellung und Toleranz betrifft. Religion, Sexualität, politische Einstellungen, Geschlechterrollen – all diese Aspekte sind in Mexiko Stadt viel breitgefächerter vertreten und auch anerkannter als im Rest des Landes. So war die Hauptstadt zum Beispiel landesweit Vorreiter, als dort 2009 die gleichgeschlechtliche Ehe eingeführt wurde und im Jahr darauf auch das gleichgeschlechtliche Adoptionsrecht. In den folgenden Jahren haben einige Bundesstaaten nachgezogen, jedoch werden LGTBQ Rechte noch lange nicht im ganzen Land anerkannt – am wenigsten in ländlichen Regionen (wohlgemerkt auch nicht in Deutschland: was Ehe und Adoption angeht schauen gleichgeschlechtliche Paare auch dort noch in die Röhre).
Vor allem Religion spielt in diesem Kontext eine große Rolle. Der Katholizismus hat vor allem in dieser „Peripherie“ Mexikos einen sehr großen Einfluss, und Aguascalientes ist dabei keine Ausnahme. Kirchen sieht man an jeder zweiten Straßenecke, und auch kleinere Dörfer in der Umgebung haben alle einen großen zentralen Platz, an dem die Hauptkirche steht. Viele Menschen in der Region sind sehr gläubig, und leben die von der katholischen Kirche propagierten christlichen Werte auch spürbar aus. Nicht nur bekreuzigen sich viele Menschen, wenn sie an Kirchen auch nur vorbeilaufen oder vorbeifahren – vielmehr gibt es einen klaren gesellschaftlichen Konsens zu Sachen wie Sex oder Schwangerschaft vor der Ehe, Scheidung und Homosexualität. Und genau in dieser Hinsicht unterscheidet sich Mexikos „Metropole“ von seiner „Peripherie“.
Mein mexikanischer Freund aus Monterrey hat das Ganze dann sehr gut auf den Punkt gebracht: „technologische und infrastrukturelle Fortschritte bringen nicht zwingend eine Veränderung der gesellschaftlichen Mentalität und Einstellung mit sich“. Insofern wird es dann verständlich, wenn hier in Mexiko bei Großstädten aus deutscher Sicht von nichts Weiterem als „große Dörfer“ die Rede ist – nicht, wie gesagt, die Größe oder Bevölkerung ist relevant, sondern dessen Mentalität. Genauso wenig kann man wohl auch den ultraliberalen Großstadtberliner mit einem oberbayerischen CSU-Wähler vergleichen (man bemerke aber: München wird von der SPD regiert, was wiederum den Stadt-Land Unterschied in Bayern betont).
Deswegen wurde mir auch schon gesagt, dass man mexikanische Städte nur mit Blick auf ihre Größe nicht mit ihren Pendants in Deutschland oder Europa vergleichen kann. Stuttgart ist bezüglich seiner Bevölkerung um einiges kleiner als Aguascalientes, stellt im deutschen Vergleich aber zweifellos eine moderne, weltoffene Stadt dar – und ist nebenbei auch viel dichter besiedelt und bebaut. Auch was kulturelle Programme angeht lässt sich Aguascalientes längst nicht mit Stuttgart oder eben Mexiko Stadt vergleichen. Fun fact: die Staatstheater Stuttgart (offizieller Name im Plural) sind das größte Dreispartentheater Europas – Oper, Schauspielhaus und Ballett unter einem Dach.
Um den Kreis zu schließen spielt am Ende also wohl doch die wirtschaftliche Entwicklung Mexikos sowie die Definition des Zentrum-Peripherie-Modells eine Rolle: Trotz (oder vielleicht gerade wegen) der enormen Größe des Landes fand viel der wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung zunächst in der Hauptstadt statt, und breitete sich erst im Laufe der Zeit auf den Rest des Landes aus. So konnte man das gesellschaftliche Leben in Mexiko Stadt schon früh mit dem von europäischen Metropolen wie Berlin oder Paris vergleichen, während die „Peripherie“ einen viel späteren Start hatte – zumindest ist das meine Theorie.
Und am Ende habe ich nach einer verkrampften Suche doch noch mit viel Fantasie einen Vergleich mit dem Capitol aus den Hunger Games gefunden: „The Capitol twinkles like a vast field of fireflies.“ Super!
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